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Zur sachlichen und geschichtlichen Deutung der Orphiker-Plättchen von Olbia

Jurij G. VINOGRADOV

Die vor knapp 40 Jahren in Olbia gefundenen und vor über 10 Jahren publizierten kleinen Knochenplättchen mit orphischen Sprüchen riefen eine richtige Sensation in der gelehrten Kreisen der Religionsforscher hervor. Das von ihnen angeregte Interesse erklärt sich wohl dadurch, dass diese Graffiti aus dem 5.Jh.v.Chr. nicht bloss die neuesten, sondern die frühesten authentischen Zeugnisse der orphischen Lehre und Praxis darstellen. Im Gegensatz zum hohen wissenschaftlichen Wert der neuentdeckten inschriftlichen Quellen aus Olbia steht der Mangel an Deutungsversuchen zur realen Anwendung der beschrifteten Knochentäfelchen bei religiösen Handlungen der lokalen Orphikergemeinschaft. In der Erstpublikation von A. Rusjaeva wurden sie wortkarg gekennezeichnet als « eigenartige symbolisch-rituelle Gegenstände im Dionysoskult und im Orphikerthiasos… Die Spuren starker Abnutzung der Buchstaben bezeugen irgendeine praktische Verwendung der Plättchen »1. Ohne einen Beweis herbeizuziehen bezeichnet sie Martin L. West als « membership tokens — bone Chips symbolizing participation in common sacrifices »2, was N. Ehrhardt seinerseits mit den Argumenten untermauert, « dass es noch zahlreiche unbeschriftete Täfelchen gibt : ausserdem sind alle Stücke abgegriffen »3. Die erste Erklärung scheint mir unzureichend, die zweite unzutreffend zu sein : Die Abnutzung der Täfelchen weist nur auf irgendeine längere Anwendung hin ; unter den anderen Knochentäfelchen aus Olbia treten freilich einige Exemplare auf, die sicher einfach magische Text- oder Zeichengraffiti tragen4. Das Ziel meines Vortrages ist nicht, Einzelheiten der Doktrin der olbischen Orphismusanhänger ausfindig zu machen ; zurückhaltenderweise beschränke ich mich auf die Fragen des konkreten Gebrauchs der Täfelchen im religiösen Leben der Orphiker und der Stelle, die der orphische Verein in der olbischen Gesellschaft und Politik einnahm. Aber zunächst müssen die Plättchen selbst kurz beschrieben werden.

Anna Rusjaeva veröffentlichte in ihrem Aufsatz 5 Knochentäfelchen, von denen nur drei zum Gegenstand meiner Erörterung werden, da die Zugehörigkeit der zwei übrigen (Nr. 4 und 5) zum Orphismus nicht eindeutig bewiesen werden kann. Alle drei anderen (Nr. 1-3, Pl. 16) wurden bei der Grabung 1951 im zentralen Temenos von Olbia in der selben Schicht ans Licht gebracht. Im frühen Hellenismus wurde diese Stelle mit den schichtenartigen Fundamenten eines Tempels überdeckt, in dem wegen der Konzentration der spätarchaischen und klassischen Votivinschriften an Zeus und Athena auf diesem Terrain ein diesen σύνναοι-Göttern geweihtes Kultgebäude erkannt wurde. Nach dem archäologischen Befund ist die Schicht zusammen mit den drei Täfelchen ins 5. Jh.v.Chr. zu datieren5. Eine paläographische Analyse bestätigt, dass alle drei Graffiti dem 2. und 3. Viertel dieses Jahrhunderts zugehören.

Diese Knochenplättchen verbindet nicht nur der Fundplatz oder die Tatsache, dass sie von einer Hand beschriftet wurden, sondern auch ihre rechteckige leicht abgerundete Form mit einer fast gleichen Grösse : etwa 5 x 3,5 x 0,5 cm. Alle drei tragen als gemeinsame Elemente den abgekürzten Dionysosnamen ΔΙ0(Ν(ύσωι ?), sowie ein Paar von Buchstaben : ein A und ein oder mehrere kursive Z6. Es sind jedoch auch Unterschiede vorhanden, die nicht nur in magischen Zeichen auf den Rückseiten von Nr. 2 und 3 neben dem blanken Verso Nr. 1, sondern vor allem in der Struktur der Texte auf den Vorderseiten zu finden sind. Text Nr. 1 ist offensichtlich kettenweise gereiht : Die sich negierende Negation βίος - θάνατος - βίος ist von dem mit zwei Zigzack Zeichen abgesonderten Wort ἀλήθεια zusammengefasst. Ganz anders ist Text Nr. 2 strukturiert, der aus einem Oppositionenpaar besteht, wobei ein Gegensatz exakt unter dem anderen geschrieben ist :

εἰρήνη — πόλεμος

ἀλήθεια — ψεῦδος

Einen weiteren nicht unbedeutenden Schritt bei der Auswertung der Täfelchen zu machen gelang mir als nach dem Original auf dem Recto Nr. 3 ein ψυχή vorangehendes σῶμα erkannt wurde, wo die Herausgeberin ein zweites ἀλήθεια gesucht hatte. Die so erhaltene Opposition lässt uns mit vollem Recht in Z.l. ein vorangehendes Gegenstück zu ἀλήθεια , nämlich [ψεῦδος] annehmen (noch lesbar bleiben die winzigen Buchstabenreste). Das Ganze wird sich somit folgenderweise präsentieren :

[ψεύδος] — ἀλήθεια

σῶμα — ψυχή.

Die nach demselben Grundsatz strukturierten Texte Nr. 2 und 3 offenbaren Gleichgültigkeit des Verfassers bei der Plazierungsaus- wahl für einen beliebigen Begriff : Er gab einem positiven oder einem negativen Terminus keinen Vorrang (z.B. Nr. 2 : ἀλήθεια — ψεῦδος steht in Z.2, demgegenüber Nr. 3 vice versa in Z.l) und beachtete ausschliesslich die senkrechte begriffliche Kongruenz. Die zweimalige Auswahl der gedoppelten Gegensätze scheint jedoch nicht zufällig zu sein. Von allem Genannten ausgehend vermögen wir folgende Schlussfolgerungen zu ziehen :

1. Die begriffliche Struktur der Texte Nr. 2 und 3 stellt ein Viereck dar, wo jedes mit einem tiefen Sinn erfüllte Wort seinen eigenen festen Eckplatz besitzt. Eine solche Lösung könnte allein die rechteckige Form der Täfelchen andeuten.

2. Dieses Viereck hat stets je zwei gegenübergestellte terminologische bzw. bedeutungsmässige kurze « Gleichheits »- und lange « Gegensatz »-Seiten.

3. Bei geänderter Orientierung eines Täfelchens konnten diese Seiten eine neue Position einnehmen, dabei werden die innerlichen Verbindungen im Rahmen der Struktur andersartig gerichtet und gelesen sein. Ein klares Beispiel bietet die Reihenfolge der Begriffe : Ein Umdrehen des Täfelchens Nr. 2 um 180° verwandelt seine Opposition ἀλήθεια — ψεῦδος zum Gegensatz des Täfelchens Nr. 3 : [ψεῦδος] — ἀλήθεια. Das bedeutet, dass jedes Plättchen als drehbar (auch im übertragenen Sinn) beabsichtigt wurde.

4. Einen weiteren Schritt lässt das Verso Nr. 3 machen, wo ein unvollendetes oder eher abgegriffenes Viereck mit zwei Diagonalen abgebildet ist7. Diese Abbildung bringt eine durchsichtige Andeutung, dass die oppositorischen Begriffe auch diagonalerweise abgelesen werden dürfen, z.B. Text Nr. 2 : Dem Frieden sei Betrug in demselben Masse widrig, in dem Feindseligkeit zur Wahrheit nicht führen kann. Diese Tatsache vermehrt die Deutungsmöglichkeiten reichlich.

5. Die aufgedeckte strenge, aber zugleich mobile Struktur der eingeritzten Texte vermag eindeutig zu beweisen, dass die olbischen Täfelchen auf eine durchsichtig kodierte Art ein System der orphischen Sinnsprüche darstellen. Nicht ausgeschlossen, sondern im Gegenteil sehr willkommen zu sein scheint eine Deutung der Maximen nicht nur je nach einem einzelnen Plättchen, sondern auch in Verbindung mehrerer solcher, was dem Ausleger ermöglichte, die orphische Doktrin in vollerem Umfang darzulegen. Beispielsweise könnte laut den Sinnsprüchen auf allen drei vorhandenen Täfelchen folgende nach anderen Quellen belegte Orphikerlehre konzipiert werden : βίος — θάνατος — βίος = αλήθεια (Text Nr. 1) soll bedeuten, dass der Weg zur Wahrheit über die Seelenwanderung liegt. Da Wahrheit mit Feindseligkeit, Lüge und leiblicher Begierde unvereinbar wäre (Texte Nr. 2 und 3 waagerecht und diagonalerweise), kann ein eingeweihter Orphiker erst durch die friedliche Existenz der Seele im irdischen Leben über den physischen Tod hinaus mit dem Auferstehen der ψυχή das höchste Lebensziel erreichen, nämlich die Wahrheit des Seins. Das skizzierte Konzept überkreuzt sich zugleich mit den orphischpythagoräischen Abstinenzvorschriften sowie mit der wohlbekannten Lehre vom Körper als Gefängnis der Seele.

Die vorgelegte Analyse der Begriffe bzw. Sinnssprüche von den olbischen Knochentäfelchen sowie ihrer Struktur bringt uns unausweichlich zu dem Schluss, dass ihr Verfasser die Lehre der Orphiker ausschliesslich auf der Ebene der philosophisch-religiösen Moral der menschlichen Existenz auseinandersetzte und keine Auslegung der orphischen Kosmo- oder Anthropogonie ins Auge fasste. Diese Feststellung schliesst selbstverständlich nicht aus, dass die Orphiker von Olbia über heilige Bücher verfügten, die auch die letztgenannten Bestandteile des Orphismus enthielten.

Kehren wir doch zur Frage von der Anwendung der olbischen Täfelchen zurück. Wie West richtig hervorhob8, bezeugt das Wort ὀρφιϰοί auf dem Plättchen Nr. 1 Aktivität einer religiösen Gemeinschaft der Orphiker in Olbia. Es wäre m.E. nicht zu kühn anzunehmen, dass diese Sekte von einem Priester geleitet wurde, der bei der Zelebration irgendeiner Kultaktion die beschrifteten Täfelchen sowie ihnen gleiche handhabte. Er konnte sie nacheinander aus einer Kiste oder einem Kalathos herausziehen, den anwesenden Mysten vorzeigen und die daraufstehenden Sinnssprüche in der Art einer Predigt auslegen. Auf jedem Fall verrät kein einziges Merkmal der Knochentäfelchen, dass sie als magische Amulette oder Orphikerausweise dienten : Sie haben keine Anbindungslöcher oder -einschnitte, keine Indizien des Eigentums und tragen alle im Grunde verschiedene Texte, was der orphischpythagoräischen Idee der Gleichberechtigung widerspricht (s. unten). Die mit sakralen Maximen bedeckten Knochenplättchen erweisen sich als symbolische heilige Gegenstände dermassen wertvolle, dass sie von den Anhängern des Orphismus im zentralen Temenos Olbias am ehesten dem Zeus und der Athena gestiftet wurden.

Man kann m.E. mit gutem Grund annehmen, dass die Kultgemeinde der olbischen Orphiker nach einem kollektiven Prinzip strukturiert war, das nicht eng geschlossene Familien- oder Gentilkreise, sondern ganz verschiedene soziale Gruppen der ganzen Polis in sich vereinigte. Andererseits unterliegt keinem Zweifel, dass die Orphikersekte von Olbia nach dem Vorbild des Thiasos von Dionysos Bakcheios (Herod. 4, 79 ; s. unten) einen geschlossenen Verein von Auserlesenen darstellte, in den man nur durch eine Initiation gelangen konnte. Wenn dem so war, können wir versuchen zu beurteilen, ob der Kreis der Orphiker in politischer Hinsicht passiv oder aktiv wirkte, und im letzteren Fall welche Rolle er in Olbias gesellschaftlichem Leben spielte. Dafür brauchen wir uns der politischen Geschichte Olbias im frühen 5. Jh.v.Chr. zuzuwenden. Da sie in meinem vor kurzem erschienenen Buch ausführlich erörtert wurde9, reicht es, sich an dieser Stelle mit einer kurzen Zusammenfassung zu begnügen.

Nach meinen Ausführungen ist für den Anfang des 5. Jh.s. ein Wendepunkt in der Geschichte Olbias anzunehmen. Infolge der erfolgreichen Abwehr der Nomadenangriffe gelang es einem Olbiopoliten Pausanias das von ihm bekleidete Amt des Aisymneten der Molpen und gleichzeitig die vermutliche Stellung vom Typ eines strategos autokrator als Sprungbrett zur Ergreifung der Tyrannenmacht auszunutzen. Als eponymer Anführer des aristokratischen Männerbundes der Μολποί musste er und seine Nachfolge in den Adelsschichten der gesamten Polis eine sichere Stütze finden und seinerseits in seinem politischen Programm die mit ihm Schritt haltenden Adligen begünstigen. Ich kann nicht den folgenden Gesichtspunkt bestreiten : « Die seit Aristoteles gängige Vorstellung von dem Tyrannen, der als Führer der Volksmassen die Adelsherrschaft bricht und damit… der Demokratie den Weg bahnt, ist ganz unhistorisch. »10 Selbst Aristoteles, Ath. pol. 17, 7 gibt die Volkstradition wieder, dass « die Tyrannis des Peisistratos das Leben bei Kronos war », und ebda 17, 9 behauptet, dass « viele vom Adel und vom Demos seine Rückkehr aus dem Exil wünschten ». Ich fasse also die Tyrannis Olbias der klassischen Zeit als Alleinherrschaft, die in einer extremen Situation auf der Grundlage des aristokratischen Regimes erwachsen war und danach strebte, die Bedürfnisse verschiedener Gruppen des Bürgerkollektivs — sowohl des Adels, als auch des Demos — möglichst zu befriedigen.

Nicht zufällig sind viele Berührungspunkte unter anderem in der Religionspolitik der Peisistratiden und der Tyrannen von Olbia zu bemerken, vor allem was Dionysosverehrung anbelangt. Im Gegensatz zur communis opinio zeigte F. Kolb überzeugend, dass der Dionysoskult keine apolitische Erlösungsreligion war, die unter « dem grauen Alltag » den rechtlosen und elenden Unterschichten der Bevölkerung ein Ventil aufgemacht hatte, sondern die Religion der ganzen Polis darstellte, die in weiten Kreisen, darunter auch bei den Adligen, populär war und deswegen von den Peisistratiden in ihren Dienst gestellt wurde11.

Der Diosysoskult und insbesondere der des Dionysos Bakcheios ist in Olbia wie in Athen zumindest seit dem späten 6. Jh.v.Chr. belegt12. Selbst die Priesternamen auf einem « dionysischen » Bronzespiegel Δημόνασσα Ληναίο εὐαὶ ϰαὶ Λήναιος Δημόϰλο εἰαί13 bezeugen eine besondere Vorliebe der olbischen Aristokratie für die Dionysosreligion. Bezeichnenderweise besass im 3. Viertel des 5. Jh.s ein Aisymnet der Molpen, der Eponym von Olbia, einen doppelten dionysischen Personennamen Διονυσόδωρος Ληναίο14. Am Ende desselben Jahrhunderts erhielt ein reicher und adliger Olbiopolit mit dem Vatersnamen Dionysermos ein prächtiges Naiskosgrabmal15.

Die weitvertretenen Ansichten über die Dionysosverehrung als eine extatische Religion ausschliesslich der entrechteten sozialen Gruppen oder sogar bloss der Bauernschaft16 widerlegt allein Herodots Zeugnis 4, 79 von des Dionysos Bakcheios’ Fest in Olbia. Es wäre schwer vorstellbar, dass der Skythenkönig Skyles, der — nebenbei gesagt — in der Polis die führende Position eines Protektors einnahm, selbst aus seiner Neigung zum Philhellenentum der Versuchung unterliegen konnte, mit der Schar « der elenden Volksmassen » in der bakchischen Exaltation « euhoe » zu brüllen ! Zutreffend weist West darauf hin17, dass Skyles den Dionysos mit einem Thiasos feierte, d.h. mit einem geschlossenen Kreis von Mysten, zu denen man sich erst nach einer Initiation (τελετή) zählen dürfte.

Mit nicht geringerem Grad der Auserlesenheit war auch die Orphikerlehre gekennzeichnet. Das bezeugen vor allem die sog. goldenen Totenpässe, die nach dem Fund des Blättchens von Hipponion18 ebenfalls seit dem 5. Jh. vorkommen dürften. In diesen Texten offenbart die Seele eines Orphikers in der Unterwelt : « Ich komme rein von den Reinen » (ἔρχομαι ἐϰ καθαρῶν καθαρά). Die Reinen sind die Elite der Orphiker, die sich aus der übrigen Masse der Uneingeweihten herausheben und allein fähig sind, ins Heim der Seligen einzutreten. Nämlich infolge des Auserlesenseins erhielt die « reine » Seele des Orphikers eine Antwort : « Du, Glückseliger, du wirst Gott anstatt eines Menschen sein » (ὄλβιος ϰαὶ μακάριστέ, θεὸς δ’ ἔσῃ ἀντὶ βροτοίο)19.

Auch im Bereich des Orphismus sind Anknüpfungspunkte an die ältere Tyrannis zu finden. Es reichte, bloss auf Onomakritos zu verweisen, der als erster uns bekannter Theologe mit dem sprechenden Namen zum Peisistratidenhof eingeladen wurde, um orphische Sprüche zu überarbeiten, zu ergänzen und zu ordnen (Herod. 7, 6). Es ist kennzeichnend, dass der von den Orphikergedanken durchdrungene Pythagoräismus in dem entfernten Kolonisationsgebiet Siziliens und Grossgriechenlands den ideologischen Unterbau der tyrannisch gesinnten Adelshetärien nährte. Es wäre ausreichend, nur ein eloquentes Beispeil anzuführen. Eine auf der Akropolis von Gela gefundene Schale aus dem späten 6. Jh. redet von erster Person : « Ich bin gemeinsame (Kylix) von Pantares und von seinen Freunden » — Παντάρεός εἰμι ϰα[ὶ]τῶν φίλων ǫοινά εἰμι20. Dass die darunter gemeinten Mahle der Adligen auf dem geloischen Burgberg zur ganz üblichen Sache geworden sind, belegt noch ein vor kurzem publizierter Graffito aus dem frühen 5. Jh. auf einer Tonlampe : ϰοινὸς τõ[ν φίλõν]21. Bekanntlich wurde die elitäre Idee « die Freunde besitzen alles gemeinsam » (τὰ τῶν φίλων κοινά) von Pythagoras ausgebreitet (Diog. Laert. 10, 11). Der auf der Schale genannte Pantares22 war der Vater von zwei geloischen Tyrannen : Kleandros und Hippokrates, die wohl auf dem Rücken dergleichen Freundeskreise (τῶν φίλων) die tyrannische Herrschaft ergriffen23.

Alle oben zusammengestellten Beobachtungen lassen mich zu der Schlussfolgerung kommen, dass des Orphiker von Olbia einen geschlossenen Kultverein der Dionysos-Verehrer bildeten, der neben den Molpen eine reale gesellschaftliche Kraft und infolge seiner elitären Gesinnung einen der Rückhalte der Tyrannis darstellte. Deswegen kann es kein Zufall sein, dass nach dem Tyrannensturz am Anfang des 4.Jh.s v.Chr. die beiden religiösen Gemeinschaften — der Molpen und der Orphiker — die Szene des politischen Lebens Olbias völlig und endgültig verlassen haben. An die Stelle dieser Kultvereinigungen, die den Adel der gesamten Polis zusammengeschlossen hatten, traten neue Familienkorporationen, die ihre gentilizischen Gottheiten, u.a. Zeus Eleutherios, verehrten.

Diese Ausführungen verfolgten von vorne herein nicht das Ziel, die Orphikertäfelchen aus Olbia allseitig zu erforschen. Wenn es mir jedoch gelungen ist, aufzuzeigen, dass sie die wertvollsten Quellen zu der Lehre und einstweilen auch die einzigen Zeugnisse von der praktischen Tätigkeit der Orphikervereine sind, so scheint mir meine Aufgabe erfüllt zu sein.

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1 Rusjaeva (1978), 95, vgl. ein deutsches Referat des Aufsatzes, Tinnefeld (1980), 68-71.

2 West (1982), 25, vgl. West (1983), 18.

3 Ehrhradt (1987), 117.

4 Z.B. Tolstoj (1953), Nr. 6, 64, vgl. SEG XXX, 926.

5 Rusjaeva (1979), 73. In der Erstpublikation wurde fälschlich angegeben, die Täfelchen seien in einer Opfergrube entdeckt worden, Rusjaeva (1978), 87.

6 Wests Vorschlag (1982), 19, in dem letzten Zeichen das Symbol einer Schlange oder eines Blitzes zu sehen, erschöpft m.E. nicht alle Deutungsmöglichkeiten.

7 So richtig Rusjaeva (1978), 88. Wests Deutung (1982, 24) des Zeichens als des Bildes eines bei den Mysterieninitiationen gebrauchten Schemels scheint zu weit hergeholt zu sein.

8 West (1982), 21.

9 Vinogradov (1989), 81-134.

10 Gschnitzer (1981), 86.

11 Kolb (1977), 113-133.

12 SEG XXXII 745 : [Διονύ]σωι Bα[ϰχείωι].

13 Rusjaeva (1978), 98 f., Abb. 7.

14 IOlb. 58 ; vgl. Graf (1974), 209 ff.

15 IOSPE I2 216. Das Patronymikon [τõ Διο]νυσ[έρ]ηο ist wohl in einer frühklassischen Weihgabe an Apollon Ietros IOlb. 167. 6 wiederherzustellen.

16 Oliva (1984), 63 ff.

17 West (1982), 25.

18 Die reiche Bibliographie ist bei Guarducci (1987), 321-325 angegeben. Vgl. zuletzt Lazzarini (1987), 329-334.

19 Zuntz (1971), 300 ff., A 1-3. Vgl. einen Grabstein gegen 450 v.Chr. aus Kyme in Grossgriechenland : οὐ θέμις ἐνθούτα ϰεῖσθαι ἰ μ̄́ε βεβαχχευμένον — Jeffery, LSAG 240, Nr. 12.

20 Jeffery, LSAG 273, 278, Taf. 53, Nr. 50.

21 Manni-Piraino (1980), 1795, Nr. 29.

22 Der Vorschlag von Lazzarini (1984), 408, Anm. 3 den Namen zu Panchares zu korrigieren, scheitert daran, dass der vierte Buchstabe sich als eine oft belegte lokale Form für Tau erweist : Manni-Piraino (1980), 1790 f., Nr. 22, Anm. 1 ; 1975, Nr. 29.

23 Berve (1967), 137-140, 597 ff.