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Zum Sprachgebrauch des Neuen Testaments aus rechtspapyrologischer Sicht

Joachim HENGSTL

Das Neue Testament ist nach allem, was sich erkennen läßt, in allen seinen Teilen griechisch verfaßt, also nicht aus einer anderen Sprache ins Griechisch übersetzt worden. Die vier Evangelien, die Apostelgeschichte des Lukas und die genuin paulinischen Briefe zumindest sind in der 2. Hälfte des 1. Jahrh. n. Chr. entstanden. Sie spiegeln folglich die griechische Sprache ihrer Zeit unabhängig von ihrem Entstehungsort. Hintergrund dessen ist die Eroberung des persischen Reiches durch Alexander d. Gr. Als Folge setzte im vorderen Orient und letztlich auch in Palästina eine starke, mehr oder minder tiefgehende Hellenisierung ein: das Griechische, griechische Beurkundungsformen und Archivierungsweisen wurden verbreitet gebraucht. Es kann daher nicht verwundern, daß die Verfasser der Schriften des Neuen Testaments als gebildete Männer sich des Griechischen bedient haben. Ihre Sprachkunde beansprucht unter einem Gesichtspunkt ein besonderes Interesse: Was für Rückschlüsse lassen sich aus ihrem Sprachgebrauch auf ihre Herkunft und ihren Erfahrungshorizont ziehen?

Ihre Sprache muß daher mit den übrigen Quellen ihrer Zeit verglichen werden. An Vergleichsmaterial mangelt es nicht. Da sind zum einen die in mehr oder minder umfangreichen Fragmenten erhaltene Literatur des späten Hellenismus und das jüdisch-hellenistische Schrifttum dieser Zeit1. Für letzteres stehen vor allem die Schriften Philos von Alexandria und des Flavius Josephus. An einer Analyse des rechtsspezifischen Sprachgebrauchs der späthellenistischen Literatur fehlt es freilich bislang2; sie muß wie alle sprachwissenschaftlichen Untersuchungen vorrangig und grundlegend den Philologen überlassen bleiben, ehe sich der Rechtshistoriker damit befassen sollte.

Grundsätzlich könnten auch die griechischen Inschriften der fraglichen Zeit mit dem Sprachgebrauch im Neuen Testament verglichen werden3. Tatsächlich aber gibt es neben – beispielsweise – zahlreichen Weihund Grabinschriften wenige Inschriften, welche sich nach Umfang und Inhalt zu einem solchen Vergleich eignen. Hinzu kommt, daß die Erschließung der griechischen Inschriften noch immer sehr unvollkommen ist. Wohl bietet das Supplementum Epigraphicum Graecum eine ambitionierte und hilfreiche Übersicht zum jährlich erscheinenden Material (mit Nachträgen). An Hilfsmitteln, vergleichbar mit der DDDP, dem HGV und Trismegistos, fehlt es aber noch weitgehend. Ein Sprachvergleich mit den epigraphischen Zeugnissen wäre daher einstweilen mit Zufälligkeiten verbunden.

Es bleibt also im wesentlichen der Vergleich zwischen dem Neuen Testament und den griechischen Papyri: Die Papyri entstammen dem Alltag, spiegeln den alltäglichen Sprachgebrauch und sind sprachlich wie grammatikalisch erschlossen. Der Vergleich zwischen dem Neuen Testament und den griechischen Papyri ist nichts Neues. Bereits vor rund hundert Jahren hat Adolf Deissmann die Welt des Neuen Testaments mit den Alltagszeugnissen des griechisch-römischen Ägypten konfrontiert4. Derartige Vergleiche sind fortgesetzt worden, vor allem in jüngerer Zeit5. Denkbar wäre ferner, den Vergleich auf die Septuaginta zu erstrecken. Er wäre sprachlich gleichfalls interessant, hätte aber einem anderen Ziel zu gelten, denn der Septuaginta liegen nämlich zumeist nichtgriechische Originale zugrunde. Ein Sprachvergleich muß sich daher in erster Linie auf die Frage richten, wie die Wörter der Vorlage durch welche griechischen Entsprechungen wiedergegeben worden sind. Zweifellos läßt ein solcher Vergleich Rückschlüsse zur Bedeutung der in der Übersetzung verwendeten griechischen Termini zu6. Letztlich geht es dabei aber vor allem um das Sprachverständnis der Übersetzer.

Beim Vergleich zwischen dem Neuen Testament und den griechischen Papyri sollte man sich freilich der durch das unterschiedliche Material bedingten Möglichkeiten bewußt sein. Bei den Texten des Neuen Testaments handelt es sich – abgesehen von der Apokalypse des Johannes – im Falle der vier Evangelien und der Apostelgeschichte des Lukas um Berichte, zum anderen um Briefe. Das papyrologische Material besteht vorwiegend aus Verwaltungs-und Rechtsurkunden sowie aus Privat-, Geschäfts-und Verwaltungsbriefen. Sie liegen zu Tausenden als Funde aus dem griechisch-römischen Ägypten vor. Auch aus dem übrigen hellenisierten Osten sind griechische Papyri erhalten, freilich in weit geringerer Zahl7. Formal bietet es sich naturgemäß an, die Briefe des Neuen Testaments mit den auf Papyrus überlieferten Briefen zu vergleichen8. Dabei geht es vor allem um Äußerlichkeiten: Anredeform, allgemeine Stilisierung, Darstellung des Briefzwecks, Schlußfloskeln, Transporthinweise.

Des weiteren sind die Gegebenheiten und damit das Leben der Menschen in der hellenisierten Mittelmeerwelt ungeachtet aller klimatischen, wirtschaftlichen, ethnischen, kulturellen und sozialen Unterschiede in jener Epoche letztlich doch recht ähnlich und mithin vergleichbar gewesen. Die Papyri illustrieren deshalb die Schilderungen des Neuen Testaments9. Daß die griechischen Papyri vor allem in Ägypten, die Schriften des Neuen Testaments hingegen außerhalb von Ägypten entstanden sind, spielt mithin keine Rolle.

Vor allem aber ermöglichen die griechischen Papyri als dem Alltag entstammende Texte, das Vokabular des Neuen Testaments in seinen Bedeutungen eingehend näher zu bestimmen10. Dabei ergeben sich zeitliche Grenzen. Die Texte des Neuen Testaments sind in der 2. Hälfte des 1. Jahrh. n. Chr. niedergeschrieben worden, während die griechischen Papyri die Zeit zwischen dem endenden 4. Jahrh. v. Chr. bis zum 10. Jahrh. n. Chr. abdecken. Im Hinblick auf die sprachliche Fortentwicklung wird man als Vergleichsmaterial vor allem Texte aus der Zeit der beiden Jahrhunderte vor und nach dem ersten Jahrhundert heranziehen, also die späthellenistische und die frührömische Epoche Ägyptens. Im einzelnen ist es freilich nicht sinnvoll, eine strikte zeitliche Grenze zu ziehen, denn sowohl die Sprache wie deren Wortbestand entwickeln sich eigenständig.

Die Quellenlage regt dazu an, ja nötigt dazu, die rechtlichen Aspekte des Neuen Testaments gleichfalls unter Vergleich mit dem papyrologischen Material und unter rechtshistorischen Gesichtspunkten näher zu untersuchen. Das noch im status nascendi befindliche Unternehmen, einen Rechtskommentar zum Neuen Testament zu verfassen, und drei jüngere Arbeiten, die eine zum Evangelisten Lukas, die beiden anderen zum paulinischen 2. Kor bieten dafür Beispiele und willkommene Vorarbeiten11.

Zunächst zu den möglichen Ansatzpunkten. Zum einen lassen sich Schilderungen im Neuen Testament anhand von anderweitigen Gegebenheiten besser verstehen. Ein Beispiel ist die Erzählung vom Hauptmann von Kapernaum: «Da aber Jesus einging zu Kapernaum, trat ein Hauptmann zu ihm, der bat ihn und sprach: “Herr, mein Knecht liegt zu Hause und ist gichtbrüchig und hat große Qual”» (Mt 8, 5-13; ferner Lk 7, 1-10). Der Hauptmann will sich offenbar seinen kranken Burschen, einen Sklaven, erhalten. Die Papyri klären die Hintergründe: Der Erkrankte ist ein privater Sklave des Hauptmanns, und solche – freien wie unfreien – Gehilfen hielt man sich in entsprechender Position in ptolemäischer wie in römischer Zeit12. Die Papyri bieten durchaus Beispiele persönlicher Verbundenheit zwischen Eigentümer und Sklaven; ein Beispiel ist der liebevolle Brief einer Sklavin an ihren Herrn P.Giss. I 17 (um 117 n. Chr.). Auch die Stellung des Hauptmanns wird anhand der Papyri deutlicher: Kapernaum ist kein Garnisonsort gewesen, und der Hauptmann folglich auch nicht Angehöriger einer in Kapernaum stationierten Truppe, sondern offenbar ein centurio (oder ἑκατόνταρχοс), wie er in den Papyri als örtlicher Militärvertreter erscheint und oft mittels Petitionen um Hilfe angegangen wird13.

Die Papyri illustrieren und erhellen auch das Gleichnis vom ungerechten Verwalter (Lk 16, 1-8): ihm droht die Entlassung; hiergegen stellt er den Schuldnern seines Herrn neue Schuldurkunden aus, in denen die Schuldsumme gemindert wird. Trotz des Verlustes erhält er das Lob seines Herrn. Die diesbezüglichen Papyri belegen nämlich scheinbar zinslose Darlehen, bei denen der Zins jedoch in den zurückzuzahlenden Betrag eingerechnet worden ist. Der Nennbetrag des Darlehens entspricht also nicht der ausgezahlten Darlehenssumme, und auf diese Weie kann jede Vorschrift über eine Zinsbegrenzung umgangen werden. Die Reduktion des also nur nominellen Darlehensbetrags billigt der gerecht denkende Herr14.

Die Beispiele rechtlich relevanter Sachverhalte, welche entsprechende Beispiele auf Papyrus erhellen, ließen sich mehren. Aber auch sonst ist der rechtshistorische Blickwinkel auf die Bibel durchaus fruchtbar15. Das Thema an dieser Stelle ist freilich ein anderes: Es gilt der Frage, in wie weit man von einem rechtstechnischen Sprachgebrauch im Neuen Testament sprechen kann und ob sich dieser anhand einer in den Papyri belegten juristischen Terminologie erhellen läßt.

Fachsprachen bedingen freilich Fachleute, die sie anwenden, mithin eine Fachdisziplin. Rechtstheoretisch geschulte Experten hat die griechisch-hellenistische Welt freilich nicht gekannt, wohl aber einerseits die griechischen Rechtsphilosophen – wie Aristoteles, Platon und Theophrast – und andererseits Rechtspraktiker, deren Wirken vor allem die gräko-ägyptischen Papyri plastisch vor Augen führen – Urkundenschreiber, Prozeßvertreter (ῥήτορεс) und Rechtsexperten (νομικοί)16. Über ihre Schulung ist wenig bekannt; sie erfolgte gewöhnlich vor allem durch die Praxis. Lediglich für jene νομικοί, welche in Prozessen als Experten des nationalägyptischen Rechts zu Rate gezogen wurden, darf man eine Unterrichtung anhand der «demotischen Rechtsbücher» vermuten17. Von einer Rechtsterminologie im eigentlichen Sinne aber läßt sich für den griechisch-hellenistischen Bereich offenkundig nicht sprechen. Zwischen den beiden Polen Rechtsphilosophie und Rechtspraxis ist keine Verbindung ersichtlich18.

Obgleich man weder von Juristen noch von einer juristischen Terminologie sprechen kann, darf man einen technisch geprägten Sprachgebrauch gleichwohl erwarten. Dieser spiegelt sich vor allem in den Bezeichnungen von Rechtsgeschäften in Urkunden und Registern oder in mehr oder minder festen Wendungen und Formularen. Eines der besten Beispiel hierfür sind die in P.Mich. II und V veröffentlichten Vertragsregister aus dem Grapheion von Tebtynis (1. Jahrh. n. Chr.). Verträge werden darin zumeist nach dem Muster registriert: δάνειον τοῦ δεῖνοс πρὸc τὸν δεῖνα δραχμῶν σκδ ⸱ μίсθωсιс τοῦ δεῖνοс πρὸc τοῦ δεῖνοс ἐλαιουργίου ⸱ ὁμολογία τοῦ δεῖνοс πρὸc τὸν δεῖνα παραμονῆc δραχμῶν ρ ⸱ ὁμολογία τοῦ δεῖνοс πρὸc τὸν δεῖνα παραμονῆc δραχμῶν ρ ⸱ ὁμολογία τοῦ δεῖνοс πρὸc τὸν δεῖνα πράсεωс οἶνου ⸱ ὁμολογία τοῦ δεῖνοс πρὸc τὸν δεῖνα παραθήκηс δραχμῶν19. Die Beispiele zeigen, wie Substantive technisch verwendet werden und zwar als Bezeichnung der verschiedenen Vertragsverhältnisse. Die technische Verwendung von Substantiven läßt sich übrigens auch in den Quellen zum attischen Recht und anderwärts beobachten. Das Maß an sprachlicher Technizität darf dennoch nicht überbewertet werden. Die für die Rechturkunden nötigen Fertigkeiten hat man sich durch praktische Schulung erworben – der Urkundenschreiber hat durch die Nachschrift von Vorlagen gelernt und ist auch in seiner Praxis vorwiegend Vorlagen gefolgt.

Die Klauseln, welche in den Papyri die mit der Übertragung von Eigentum erworbenen Rechte beschreiben, sind das beste Beispiel für die mangelnde Fähigkeit zur Abstraktion. Der Begriff «Eigentum» steht in modernen Rechtsordnungen für die umfassende Rechtsmacht, über eine Sache zu verfügen. In den Papyri fehlt ein solcher abstrakter Begriff. Eigentum wird hier beschrieben über seine Funktionen, mit dem gekauften Gegenstand nach Belieben zu verfügen – das Recht zum Zutritt etwa oder das Recht zur Veräußerung20. Die Professionalität der Urkundenschreiber hebt sich im Können von den einschlägigen Ausführungen in Geschäftsbriefen und diese wiederum von denen in einfachen Privatbriefen deutlich ab21. Selbst dem hohen rhetorischen Standard der attischen Gerichtsreden steht eine geringe Technizität der verwendeten Termini gegenüber, und ein Mehr an Fachterminologie darf man in der sonstigen griechischen Literatur nicht erwarten.

Die Verfasser des Neuen Testaments sind erkennbar nie als Urkundenschreiber tätig gewesen, und ihnen fehlt folglich das entsprechende praktische Wissen. Auch bei ihnen darf man daher die Verwendung einer über den gewöhnlichen Sprachgebrauch hinausgehenden Terminologie weder erwarten noch findet man sie. Hieran ändert auch der Umstand nichts, daß sie die griechische Sprache ausgezeichnet beherrschen – Beherrschung einer Sprache im allgemeinen bedeutet noch lange nicht, daß man sich in einer Fachterminologie auszudrücken vermag oder dies überhaupt will.

Aussagekräftig ist beispielsweise der sowohl politische wie topographische Begriff πόλιс. In politischer Hinsicht bezeichnet er die Stadtstaaten und die politische Gemeinschaft ab der frühklassischen über die hellenistische bis in die römische Zeit; charakteristisch für diese poleis waren Einrichtungen wie Bürgerrecht, Selbstverwaltungsorgane und bestimmte städtebauliche Gegebenheiten22. Zugleich aber wurde polis in topographischem und urbanem Sinn verwendet. Der Terminus bezeichnete dann eine herausragende Siedlung ohne Rücksicht auf deren rechtliche Stellung oder das Vorhandensein von «städtischen» Einrichtungen. Die Beleglage zum griechisch-römischen Ägypten ist dafür typisch23. Dort gab es vier poleis im verfassungsrechtlichen Sinn – Alexandria, Naukratis und Ptolemais sowie später Antinoupolis, und jede von ihnen wurde selbstverständlich als polis bezeichnet24. Polis bezeichnete aber auch Alexandria im Gegensatz zum übrigen Ägypten (χώρα), ferner die Gaumetropolen als Sitz der Gauverwaltung (z. B. Krokodilon-polis), ebenso aber andere größere Siedlungen. Rechtlich war die Bezeichnung polis allerdings bedeutungslos – abgesehen von den drei beziehungsweise vier genannten Griechenstädten waren alle anderen Ansiedlungen in Ägypten ungeachtet ihrer Größe lediglich Dörfer (κῶμαι)25. Diesem Bild entspricht der Sprachgebrauch im Neuen Testament. So wird das mehrfach erwähnte Betsaida in Lk 9, 10 und Jh 1, 44 als polis bezeichnet. Der regionale Herrscher Philippus hat Betsaida tatsächlich um 30 n. Chr. zur polis erhoben, um gegenüber den umliegenden Orten ein Mehr an Rechten zum Ausdruck zu bringen. Was über die Bezeichnung hinaus den «polis-Charakter» ausgemacht haben könnte, ist ungewiß, und anderwärts wird Betsaida lediglich als Dorf bezeichnet26.

Nicht besser – das heißt aussagefähiger – ist es um sonstige Begriffe bestellt, die der Alltagssprache angehören, aber zudem in rechtlichem Zusammenhang verwendet werden. Wer schrieb, tat dies in der Sprache und der Form seiner Zeit. Da es eine eigentliche Rechtsterminologie in den außerrömischen antiken Rechten nicht gegeben hat, werden solche Begriffe im NT lediglich beschreibend, nicht technisch verwendet. Wenn Jesus sich nach Mt 4, 12 dem Zugriff der Behörden entzieht, wie dies in Ägypten Menschen vielfältig tun, so sind dafür ἀναχωρεῖν bzw. ἀναχώρηсιс im Neuen Testament wie in Ägypten die verwendeten Bezeichnungen27. Gleiche Begriffe beschreiben eben entsprechende Umstände: dem gemäß stehen die von Jesus Lk 11, 31-53 gebrauchten Wörter «Urteil» (κρίсιс), «verurteilen» (κατακρίνειν), «durchsuchen» (ἐκζητεῖν) und «Advokaten» (νομικοί) in keinerlei rechtlichem Zusammenhang; sie erlauben daher keinen Rückschluß auf irgendeine Rechtsordnung und auf irgendeine über den normalen Sprachgebrauch hinausgehende Verwendung. «Lohn» wird im griechischsprachigen Neuen Testament mit dem in den Papyri geläufigen Begriff μιсθóc bezeichnet28. Das besagt jedoch nicht, es läge eine μίθωсιс, also ein Vertragsverhältnis nach griechischem Recht vor. Wer von den Verfassern der Schriften des Neuen Testaments solche Begriffe verwendet, tut dies naturgemäß dem ihm geläufigen Alltagsgebrauch des Griechischen entsprechend – und dieser umfaßt bis zum Beweis des Gegenteils keine spezifischen Kenntnisse vom griechischen Recht.

Der Feststellung, es gäbe keine Rechtsterminologie außerhalb des römischen Rechts, scheinen die von N. Grotkamp auf dem 26. Internationalen Papyrologen-Kongreß vorgelegten Belege zu οἴχομαι ἔχων «Ich gehe weg im Besitz von…» zu widersprechen29. Die Wendung findet sich mehrfach im Zusammenhang mit Diebstahlsanzeigen, und schildert eben die Entwendung einer Sache30. Tatsächlich aber ist der Begriff kein terminus technicus, sondern drückt nur das sprachliche Empfinden im Alltag aus.

Aus dem vorstehend Ausgeführten ließe sich schließen, daß Wordfeld-Untersuchungen unter rechtsspezifischen Gesichtspunkten sinnlos und folglich überflüssig wären. Dies triff freilich nicht zu. Obgleich die Verwendung eines Wortes in rechtlichem Zusammenhang keinen Beleg für eine Rechtsterminologie darstellt, so spiegelt sie doch einen speziellen Bedeutungsaspekt und nötigt daher zur Frage, ob sie einen besonderen Erfahrungshorizont eines Verfassers wiedergibt.

Bezeichnend hierfür sind der Sprachgebrauch des Evangelisten Lukas und der des Apostels Paulus. Lukas schreibt sprachlich kompetent und verwendet eine verwaltungstechnisch geprägte Terminologie oft und versiert, hat aber offenbar keine weitere Berührung mit der griechisch-hellenistischen Rechtspraxis gehabt. Seine diesbezügliche Begriffswelt läßt an Erfahrungen in einem stark römisch geprägten, aber hellenistische Relikte bewahrenden Verwaltungsalltag denken. Lukas könnte demnach Ämter und Funktionen in einer griechischen polis wahrgenommen haben, also der Honoratiorenschicht einer griechischen polis entstammen und deren Gepflogenheiten gefolgt sein, ehe er sich dem Christentum zugewendet hat.

Entsprechendes gilt für den Apostel Paulus. Dieser stammt bekanntlich aus Tarsos in Kleinasien, hat Zeltmacher gelernt und sein Philemonbrief verrät die Kenntnis von Formulierungen, wie sie die gräko-ägyptischen Lehrlingsverträge belegen31. Da Lehrjungen selbst bei Schriftkenntnis nicht den Wortlaut ihrer Lehrverträge auswendig zu lernen pflegen, darf man annehmen, daß Paulus seine Kenntnisse einer unternehmerischen Tätigkeit verdankt, vielleicht als Mitinhaber einer Manufaktur in Familienbesitz32.

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1 Vgl. z. B. den Überblick bei Lesky (1971) 894-902, oder Primo (2009).

2 Im Hinblick auf den hier maßgebenden spezifisch rechtlichen Blickwinkel ist es unbeachtlich, in wie weit in den diversen Kommentaren zu den Büchern des Neuen Testaments die literarischen Zeugnisse dieser Epoche berücksichtigt worden sind.

3 Vgl. beispielsweise zur Verwaltungssprache der Ptolemäerzeit Hengstl (1992) 490-491, Anm. 16.

4 S. Deissmann (1923).

5 Vgl. dazu beispielsweise Horsley/Llewelyn, New Documents Illustrating Early Christianity, sowie vor allem Arzt-Grabner (2003); Arzt-Grabner/Kritzer/Papathomas/Winter (2006); Kreinecker (2010); s. ferner die Nachweise bei Arzt-Grabner (2003) 41, Anm. 14-15.

6 Vgl. dazu beispielsweise Dorival (1996); Heinen (1984); Passoni dell’Acqua (1988); Winter (2010); s. ferner die Nachweise bei Arzt-Grabner (2003) 41, Anm. 14.

7 Vgl. Cotton/Cockle/Millar (1995); sie listen 609 Texte auf. Weitere sind inzwischen hinzugekommen.

8 Zur Vergleichbarkeit der griechischen Papyri innerwie außerägyptischer Herkunft mit dem Neuen Testament, s. Arzt-Grabner (2003) 39-56.

9 Sehr plastisch Deissmann (1923) passim; vgl. ferner die Beiträge in der Reihe NTAK.

10 Hierzu ist auf die von Peter Arzt-Grabner initierte Reihe Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament zu verweisen. Zu deren Aufgabenstellung, s. Arzt-Grabner (2003) 37-56.

11 Rechtskommtentar zum Neuen Testament, hrsg. von Folker Siegert (Münster); s. <http://egora.uni.muenst.de/ijd/forschen>; Bormann (2001); Papathomas (2010); inzwischen ferner Kreinecker (2010).

12 Vgl. P.Ent. 48 (Ende 218 v. Chr.). Anschaulich dazu und mit weiteren Nachweisen Speidel (1996) 53-54.

13 Vgl. dazu Alston (1995) 86-96; Liste solcher Eingaben 88-90; vgl. dazu Hobson (1993).

14 Eingehend zur Stelle Herrmann (1970); zu derartigen Rechtsgeschäften, s. vor allem Pestman (1971) sowie Herrmann (1962) 30.

15 S. u.a. Knütel (1986); Mayer-Maly (2003); Nörr (1961); Nörr (1966).

16 S. z. B. Simon (1965) 54. Zur römischen Rechtswissenschaft und den römischen Juristen, s. ferner Kunkel (1967) passim; Wenger (1953) 473-530 u.ö.; Wieacker (1988) 519-675, insbesondere 523, 551-563, 563-566, 572-595. Zu Platon, Aristoteles und Theophrast, vgl. Rosetti (2004) 51-73. Zum griechischen Rechtsdenken, s. Triantaphyllopoulos (1985) passim; Wolf (1950-1970) passim. Zu den Prozeßvertretern und Rechtsexperten, und zu den unmittelbar folgenden Ausführungen, s. Hengstl (2006) 119-129; vgl. ferner Anagnostou-Canas (1996) 80-88.

17 S. dazu Hengstl (2006) 125-127. Zu den «demotischen Rechtsbüchern», vor allem Lippert (2004) passim; ferner u.a. Mélèze-Modrzejewski (1986) 11-44; Quaequebeur (1980/1981) 227-240; zum rechtshistorischen Charakter der Rechtsbücher, Hengstl (2010b) 177-182.

18 Anders Barta (2010) passim. Barta (11-13) führt jedoch Rechtsphilosophie und Rechtspraxis unter dem Begriff «Rechtsdenken» zusammen ohne Verbindungen auch nur zwischen den attischen Logographen und den anderen literarischen Rechtsquellen überzeugend darzutun. Die durch Inschriften und vor allem durch die gräko-ägyptischen Papyri belegte Praxis der Urkundenschreiber ist überhaupt nicht berücksichtigt. Daß die drei Quellenbereiche ungeachtet der quellenund zweckbedingten Unterschiede Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen erkennen lassen, kann nicht verwundern, denn sie entstammen alle der griechisch-hellenistischen Rechts-κοινή.

19 P.Mich. II 121 verso xi, 1-5 (die Abkürzungen im Original sind hier nicht gekennzeichnet).

20 Z.B. BGU II 667, 5-9 (Grundstückskauf; Arsinoites, um 221/222 n. Chr.): π̣[ε]π̣ρακέναι αὐτῷ τὴν ὁμολογοῦсαν Θ̣ερμου|[θάριον κατὰ τήνδε τὴν ὁμολογίαν καὶ διὰ τῆc τῶν ἐ]νκτήсεων βιβλιοθήκηс ἀπ̣[ὸ τῆc] προγεγραμμένηс ἡμέραс ἐπὶ τὸν ἄπ̣α̣ν̣τ̣α | [χρόνον τὴν ὑπάρχουсαν αὐτῇ ἐν κώμῃ Φυ]λακιτικῇ Νήcῳ̣ οἰκίαν ἐπὶ τοῖc [οὖ]сι αὐτῆc μέτροιс καὶ πηχιсμοῖc καὶ θεμελί[οιс] | [καὶ τείχεсι καὶ φωсφορίοιс καὶ εἰcόδοιс καὶ ἐζόδοιс καὶ ταῖc ἄλλαιс πάc]αιс χρήсεсι καὶ δικαίοιс πᾶ[c]ι̣ κατὰ [τὴ]ν ἐζ ἀρχῆc καὶ μέχρι τοῦ νῦν «… ihm habe verkauft die zustimmende Thermutharion gemäß dieser (hier vorliegenden) Vereinbarung und der im Besitzregister vom vorstehend niedergeschriebenen Tag an für alle Zeit das ihr im Dorf Phylakitike Nesos gehörende Haus zu den bestehenden Abmessungen und Größenangaben und Grundmauern und (aufgehenden) Mauern und Lichteinlässen und Zugängen und Ausgängen und allen anderen Gebrauchs (möglichkeiten) und Berechtigungen demnach von Anfang an und bis jetzt…»; 14-17: ἐπὶ τὸν ἄπαντα χρό|[νον καὶ μηδένα κωλύειν αὐτὸν μηδὲ τοὺc παρ’ α]ὐτοῦ κυριεύονταс τῆc αὐτῆc οἰκίαс καὶ τὰ ἐζ αὐτῆc ἀπὸ τοῦ νῦν περιγι|[νόμενα ἀποφέρεсθαι εἰc τὸ ἴδιον καὶ ἐζαλλοτ]ριοῦνταс καὶ διοικοῦνταс περὶ αὐτῆc ὅτι ἂν αἱρῆται ἀνεμ|[ποδίсτωс κτλ. «für die gesamte Zeit und niemand (dürfe) ihn hindern noch die Seinen, die Herr jenes Hauses sind, wie auch die Einkünfte von jetzt an einzuheimsen, und das (Haus) zu veräußern sowie (den Besitz) zu verwalten, wie gewollt, ungehindert…». Entsprechend wird in P.Oxy III 489, 4-8 (Testament; Oxyrhynchos, 117 n. Chr.) das Eigentümerrecht und ein eingeräumter Niesbrauch nicht abstrakt mit jeweils einem einzigen Begriff bezeichnet, sondern in ihrer Funktion beschreiben: [ἐφ’ ὅν μὲν περίειμι] χρ[όνον τῶν ἰδίω]ν κύριον εἶναι καὶ χρᾶсθαι καὶ οἰκονομεῖν περὶ αὐτῶν καὶ μεταδιατίθεсθαι καθ’ ὅν ἐὰν αἱρῶμαι | [τρόπον. μετὰ δὲ τελευτήν μου] сυνχωρῶ ἔχειν τὴν сυνοῦcάν μοι γυναῖκα Διογενίδα Πτολεμαίου ἀπὸ τῆc αὐτῆc ἐφ’ ὅν περί|[εсτι χρόνον ἐνοίκηсιν καὶ] χρῆсιν χωρὶc ἐνοικίου οἴκο[υ] ἑ̣ν̣ὸc οὗ | ἐὰν αὐτὴ αἱρῆται ἀφ’ ἧ|c ἔχω ἐπ’ ἀμφόδου βορρᾶ Κρηπεῖδοс | [λιθίνηс οἰκίαс cὺν ἐζόδῳ καὶ] ε[ἰ]cόδφ, ἥτιс καὶ ἔζει χρῆсιν ἐφ’ ὃν περίεсτι χρόνον τῶν ὑπ’ ἐμοῦ ἀπολειφθηсομένων ἔν τε τῶι | [αὐτωῷ οἴκῳ καὶ ἐν τῇ οἰκίᾳ сκευ]ῶν καὶ ἐπίπλων κτλ. «Solange ich lebe, bin ich Herr des Meinigen und kann es gebrauchen und verwalten und anderweitig testamentarisch verfügen, wie ich will. Nach meinem Tod aber räume ich meiner Ehefrau Diogenida, Tochter des Ptolemaios, ein für die Zeit, solange sie lebt, das Wohnrecht und den Gebrauch ohne Mietzins eines Haus (teils) welches sie wählen mag in meinem steinernen Haus samt Zugangs-und Ausgangs (recht) im nördlichen Krepis-Bezirk. Davon soll sie, solange sie lebt, meine Hinterlassenschaft in eben diesem Haus und die Ausstattung des Hauswesens sowie die Hausgeräte.»; P.Oxy. II 270, 28-34 (Freistellung eines Bürgen; Oxyrhynchos, 94 n. Chr.): ἐὰν δὲ τῆc προθεсμίαс ἐνсτάсηс μὴ ἀποδῷ ἡ ὁ|μολογοῦсα τῷ Ἡρακλείδη τὸ κεφά[λ]αιον καὶ τοὺc τόκουс, ἀπαι|τηθῇ δὲ ὑπὲρ αὐτῆ[c ὁ Cαρ]απίων ὁ καὶ Κλάροс, κυριε[ύ]ειν αὐ|τὸν Cαραπίων[α] τὸν [καὶ Κ]λάρον τῶν προκειμένω[ν] ἀρουρῶν | εἴκοсι τεссάρω[ν τρίτου δ]ωδεκάτου εἰc τὸν ἄπαντα χ[ρ]όν[ον ὡ]|c ἂν πράсεωс [αὐτῷ γενο]μένηс καῖ [ἀ]ποφέρεсθαι τὰ ἐζ αὐτῶν | καὶ ἑτέροιс αὐ[τὰc πωλ]εῖν καὶ χρᾶc[θαι ὡc] ἐὰν αἱρῆται «Wenn in diesem Termin die Vertragschließende dem Herakleides das Kapital und die Zinsen nicht zahlen sollte und diese an ihrer Stelle von Sarapion, auch Klaros genannt, beigetrieben werden, soll Sarapion, auch Klaros genannt, Herr der genannten vierundzwanzig eindrittel einzwölftel Aruren auf immer sein, als ob zu seinen Gunsten die Zwangsvollstreckung stattgefunden hätte, und daraus (die Früchte) ziehen und (die Aruren) anderen verkaufen und sie nutzen wie er will.» Vgl. bereits Plat. Euth. 301e: ἄρχειν καὶ ἐζεῖναι χρῆсθсι «beherrschen und zum Gebrauch berechtigt sein». Vgl. dazu ferner Kränzlein (1963) passim.

21 Vgl. dazu Hengstl (2002) 213-228.

22 Zur (politischen) polis, s. u.a. Rhodes (2001).

23 Vgl. zum Folgenden beispielshalber die Belege bei Preisigke, WB 334, s.v. πόλιс.

24 Zu den Griechenstädten im griechisch-römischen Ägypten, s. vor allem Alston (2002).

25 Vgl. dazu Rupprecht (1994) 44 und 55.

26 κώμη: Mk 8, 22-23 und 26. Zu Betsaida, s. Colpe (1997).

27 Zur ἀναχώρηсιс im römischen Ägypten, s. u.a. Lewis (1937); Lewis (1993) 111-117 (= Lewis [1995] 357-373).

28 Z.B. Lk 10, 7; Jh 4, 36; zu μιсθóc als Lohn, Hengstl (1972) 106.

29 In diesen Kongressakten, N. Grotkamp, «Die Bezeichnung der Diebstahlshandlung im ptolemäischen Ägypten».

30 S. P.Frankf. 3, 20 (Arsinoites, 218/217-204 v. Chr.): ᾤχοντο ἔχοντεс αὐτῆc κρόκην «sie entwichen im Besitz ihres Gewebes»; P.Tebt. III. 1 796, 7-8 (185 v. Chr.): οἴχονται [ἔ]|χοντεс ἐν τῇ προсτάδι сφυρίδα сατῶν «sie entwichen mit einem im Vorraum (befindlichen) Getreidekorb».

31 S. Arzt-Grabner (2003) 65-70.

32 S. Hengstl (2010a).