Diebstahl im ptolemäischen Ägypten
«Einbrecher» und «Taschendieb» sind nur zwei Varianten, in der deutschen Sprache einen Täter zu nennen, der gegen § 242 des deutschen Strafgesetzbuchs (StGB) verstößt. Egal ob jemand einbricht, klaut, stiehlt oder lange Finger macht – in jedem Fall kann er nicht nur umgangssprachlich als Dieb bezeichnet werden, sondern auch im technischen, strafrechtlichen Sinn. Denn in § 242 StGB ist genau festgelegt, was ein strafbarer Diebstahl ist, nämlich eine fremde, bewegliche Sache mit der Absicht wegzunehmen, sie sich oder einem anderen rechtswidrig zuzueignen. Diese Definition macht «Diebstahl» zu einem terminus technicus. Im hellenistischen Ägypten war dies anders.
«Dem ptolemäischen Recht ist ein allgemeiner technischer Ausdruck für den Diebstahl nicht bekannt, sonders es werden regelmäßig zur Bezeichnung desselben: κλέπτειν, ἀφαιρεῖν, ἀφαρπάζειν, сυλᾶν, сτερεῖν, ἀποφέρειν gebraucht. Einmal sogar eine umschreibende Wendung: ᾤχετο ἔχων.» – so die für den Bereich des Deliktsund Strafrechts noch immer als maßgeblich erachtete Arbeit, Taubenschlags Strafrecht der griechischen Papyri, das 1916 veröffentlich wurde und die im Wesentlichen unverändert in sein Law of Greco-Roman Egypt von 1944 einging1. Trotz aller Kritik die dieses von der römischen bzw. modernen deutschen Begrifflichkeit geprägte Werk erfahren hat, müssen die Kommentierungen bis zu jüngsten Editionen darauf zurückgreifen. So ist etwa in einer Edition von 2006 zu einer Diebstahlsanzeige zu lesen, dass der dortige «neutrale Ausdruck» οἴχομαι ἔχων in eine Reihe mit eindeutigeren Ausdrücken gehöre, siehe Taubenschlag2; inzwischen haben zahlreiche Arbeiten nebenbei festgestellt, das gerade dieses οἴχομαι ἔχων sehr häufig ist und evtl. sogar der übliche Ausdruck für eine Diebstahlseingabe ist3. Diese Feststellungen wurden freilich nur gelegentlich getroffen und waren nicht Zentrum neuerer Arbeiten. Hier soll gezeigt werden, dass dieser vermeintlich neutrale Ausdruck für eine Diebstahlseingabe typisch ist und viel über die hellenistische Konzeption des Diebstahls verrät.
Taubenschlags Bemerkung, es gäbe keinen technischen Ausdruck für Diebstahl ist in gewisser Hinsicht zunächst banal, denn ein terminus technicus liegt im strengen Sinne nur dann vor, wenn es auch eine Definition gibt, die festlegt und genau abgrenzt, was ein Wort bedeuten soll. Solche Definitionen sind üblicherweise Produkt einer ausgeprägten Rechtswissenschaft, die es bekanntermaßen in den meisten antiken Rechtsordnungen nicht gab. So gibt es auch für das ptolemäische Ägypten keine wie auch immer überlieferte Definition eines dem heutigen Diebstahl ähnlichen Delikts. Soweit man Taubenschlags Aussage jedoch dahin versteht, dass in den Papyri beliebige Worte zur Beschreibung des Verhaltens benutzt wurden, das wir Diebstahl nennen, komme ich zu einem anderen Ergebnis. Insbesondere ist das zuletzt erwähnte ο’ίχομαι εχων nicht bloß singulär und auch nicht bloß eine umschreibende Wendung, sondern in Anzeigen und Eingaben die mit Abstand am häufigsten verwendete Bezeichnung der Diebstahlshandlung.
Die juristische Papyrologie hat sich nach Taubenschlag weniger mit den materiellen Strafund Deliktstatbeständen beschäftigt, sondern mehr mit Fragen der Strafverfolgung4. Dieser Themenkreis wird hier nicht berührt. Dafür gerieten die Diebe, Räuber und Banditen des Ptolemäerreichs stärker in den Blick der Sozialgeschichte5. Einiges wird in den Anmerkungen zu Papyruseditionen thematisiert6. Für das klassische Athen hingegen gibt es mehrere neue terminologische Untersuchungen7. Erinnert sei hier auch an die grundlegende Untersuchung von Cohen (1983), in der er versucht, den Normalfall einer attischen κλοπή zu ermitteln8.
Wirft man nun einen Blick auf Taubenschlags Liste für Ausdrücke, die in ptolemäischen Papyri einen Diebstahl bezeichnen – und zwar sowohl in seinem Strafrecht von 1916 als auch seinem Law of Greco-Roman Egypt von 1944–, hat man zunächst den Eindruck, einer außergewöhnlichen Vielfalt zu begegnen. Betrachtet man die Darstellung jedoch genauer, so fällt schnell auf, dass er nur für etwa die Hälfte der Verben mehr als eine Belegstelle liefert, nämlich für:
– ἀφαιρεῖν (wegnehmen, abnehmen, fortnehmen, rauben; auch: beschränken);
– ἀποφέρειν (wegtragen, wegbringen, hinbringen, entrichten) und – im Law of Greco-Roman Egypt–
– ᾤχετο ἔχων (wörtlich: «er ging habend weg», mitgehen lassen).
Schon die Listen von Anna di Bitonto in ihrer Untersuchung zum Formular der Eingabe an Funktionäre vermittelt ein differenzierteres Bild. Sie spricht davon, dass es zwar keinen terminus technicus gegeben habe, die üblichen Ausdrücke für einen Diebstahl seien aber:
– ᾤχοντο ἔχοντεс (5 Belege),
– ἀπηλλάγηсαν ἔχοντεс (2 Belege) und
– ἀπηνέγκαντο (2 Belege),
– während ἐξέδυсαν, περιήλαсαν, ἔκλεψαν, ἀφείρηται und ἀφείλετο weniger gebräuchlich seien9.
Auffällig ist zunächst, dass κλέπτω nicht zu den häufig gebrachten Ausdrücken zählt, obwohl man gerade dieses Verb erwarten würde, wenn im attischen Recht die Klagen schon als γραφὴ κλοπῆc und δίκη κλοπῆc bezeichnet wurde. Taubenschlag erwähnt für κλέπτω jedoch nur ein einziges Beispiel10. Es handelt sich hier um das Fragment eines Vertrags aus dem späten dritten Jahrhundert. Nur wenige Zeilen sind überliefert, der Vertragsgegenstand bleibt unsicher. Während die ersten Herausgeber dies für den Teil eines Ausbildungsvertrags hielten, halten andere einen allgemeinen Dienstvertrag oder ein antichretisches Darlehen für wahrscheinlicher11. In den erhaltenen Zeilen wird lediglich vereinbart, dass Poros, wenn er beim κλέπτειν erwischt wird, das Doppelte des Schadens zahlen muss, und dass Poros ohne Zustimmung von Epimenes weder am Tag noch in der Nacht weg sein darf.
Nach unserem heutigen Verständnis dürfte dieses κλέπτω eher um eine Unterschlagung als einen Diebstahl bezeichnet haben, da Poros nach allen vorgeschlagenen Rekonstruktionen einen sehr engen Umgang mit dem Eigentum des Epimenes hatte. Dies ist nicht verwunderlich, da Diebstahl und Unterschlagung auch in anderen antiken Rechtsordnungen nicht unterschieden wurden. Wichtiger ist die Beobachtung, dass dieser einzige Hinweis darauf, dass ein Dieb im ptolemäischen Ägypten mit dem doppelten Wert des Diebesgutes belangt werden konnte, lediglich ein vertragliches Versprechen ist. Dies lässt offen, ob der Ersatz des Duplums eine generelle Regel war.
Ein weiterer Beleg für κλέπτω und seine Ableitungen ist das Verb ἐδραγματοκλέπτει in einem Strafregister aus der Kanzlei des Strategen Diophanes12. Bei den drei anderen handelt es sich um Eingaben bzw. Entwürfe für Eingaben13. In einem Fall ist das κλέπτω jedoch nur unsicher gelesen, in einem weiteren erscheinen zwar Diebe (κλέπται), die Handlung selbst wird mit dem üblichen οἴχομαι ἔχων bezeichnet. Der dritte Fall ist eine in einem der Entwürfe für die Eingabe der Zwillinge Tauges und Taus erwähnte Missetat, die nach heutigen Kategorien eine klassische Unterschlagung wäre.
Die nächsten Verben aus Taubenschlags Liste sind noch spärlicher belegt. Das Verb ἀφαρπάζω fand Taubenschlag in einem Überstellungsbefehl, сυλάω in einer der wortreichen Eingabeentwürfe der Zwillinge Tauges und Taus14. Wie schon das Verb κλέπτω, das der im Serapeion eingeschlossene Ptolemaios in einer anderen Fassung der Schrift für eines der zahlreichen Übel gebrauchte, um das Leid der Zwillinge auszumalen, bleibt die Beschreibung vage. Als Beleg für сτερέω für einen Diebstahl betrachtet Taubenschlag eine fragmentarische Eingabe aus dem Jahr 218 v. Chr., in der um in Verwahrung gegebene Gegenstände gestritten wird15. Der genaue Vorwurf ist nicht rekonstruierbar, da der Papyrus in der Mitte ein großes Loch hat, doch scheint die Handlung von unserer Vorstellung eines Diebstahls weit entfernt. Dazu passt, dass ἀποсτερεῖν häufig die Bedeutung von «etwas geschuldetes vorenthalten» hat16. Dies sollte jedoch nicht dazu verleiten, diesen Papyrus aus der weiteren Betrachtung auszuschließen, denn wie schon gesagt trennten die antiken Rechtsordnungen Diebstahl und Unterschlagung nicht. Jedoch bleiben diese drei Verben selten.
Gelegentlich kennzeichnen in Eingaben noch andere, von Taubenschlag nicht erwähnte Verben eine Diebstahlshandlung, so ἐκδύω «ausziehen» und περικόπτω «verstümmeln, plündern» oder aus der Opferperspektive ἀπόλλυμι «verlieren»17. Diese Verben werden häufig im gleichen Text neben Standardausdrücken eingesetzt, so dass eine wiederholte Verwendung eines der üblichen vermieden wird. Insgesamt bleibt ihre Bedeutung jedoch gering.
Zahlreich sind hingegen schon bei Taubenschlag die Beispiele für ἀφαιρέω, die ich nur um wenige erweitern kann. Häufig wird hier das Diebesgut dem Opfer während eines Gerangels abgenommen. In einem Fall entdeckt ein Krateuas, dass Schäfer eine seiner Weiden abgeweidet haben18. Als er sie zur Rede stellt, wird er angegriffen, die Hirten nehmen ihm seinen Mantel ab. Als er kurz darauf die Eingabe macht, hat er diesen schon zurückerhalten, die Anzeige erfolgt wegen Abweidens und Misshandlung. In einem anderen Fall rangeln zwei Frauen im Bad19. Der hier abgenommene Schmuck ist später ebenfalls nicht mehr Gegenstand der Eingabe, sondern ein Mantel, der der Klägerin einige Tage später abgenommen wird. Denn am Ende bittet sie den König nur, die Rückgabe des Mantels zu erzwingen. Die Aufschrift auf der Rückseite endet mit: περὶ ἱματίου «wegen eines Mantels». In einer Eingabe an den Komogrammateus von Apollonias geht es nach der rückwärtigen Aufschrift um Weintrauben20. Es wird berichtet, dass drei Judäer Weinstöcke im Garten des Peitholaos abgelesen hätten. Nebenbei wird erwähnt, dass sie dem Wächter des Gartens im Gerangel ein Winzermesser weggenommen hätten.
Zusammensetzungen mit αἱρέω gebrauchten die antiken Schreiber auch beim Viehdiebstahl, etwa für einen Schweinediebstahl auf offener Straße oder beim Vorwurf, während eines Festes das Opfertier eines anderen geopfert zu haben21. Dazu kommen Fälle, die heute als Raub klassifiziert werden würden, da bewusst Gewalt zur Wegnahme eingesetzt wurde22.
Für ἀποφέρειν liefert Taubenschlag sechs Belege, wobei zwei Papyri den gleichen Fall betreffen, nämlich das Entfernen von Gegenständen von einem Grundstück, das der im Serapeum eingeschlossene Ptolemaios geerbt hatte23. Dazu kommen eine weitere, vergleichbare Eingabe in einem Erbstreit, eine Eingabe nach einer Grabplünderung24; eine andere, vermutlich nach einem Einbruch, mit der der Petent die Rückgabe des wieder gefundenen Teils der Beute begehrt25; und schließlich eine Eingabe wegen Tempel-diebstahls26.
Vier weitere Fälle für die Verwendung von ἀποφέρειν bzw. ἐκφέρειν zur Kennzeichnung der Diebstahlshandlung bringen keinen neuen Aspekt. Es handelt sich um eine Beschreibung eines nächtlichen Einbruchs27; ein Briefentwurf eines Sitologen, der nicht feststellen konnte, wie viel Korn ein Bauer geerntet hatte, da es vor der Messung zu Diebstählen kam28; eine Eingabe mit der Behauptung, ein Vertragspartner habe die Wache überwältigt und Futter weggetragen, als er um Zahlung gebeten wurde29; der Rest einer Eingabe einer Person, deren Weizen von der Tenne weggetragen wurde30; und schließlich die Eingabe eines Fischers, dessen Schabeisen weggenommen wurde31. In fast allen Fällen wird das Diebstahlsobjekt aus einem Gebäude, einem Haus, einem Tempel, einem Getreidespeicher oder einem Grab heraus getragen. Nur in einem Fall wurde Gewalt angewendet. Ἀποφέρειν bzw. ἐκφέρειν werden also vor allem da verwendet, wo wir von einem Einbruch sprechen würden.
Für den Ausdruck οἴχομαι ἔχων, wörtlich etwa «habend Weggehen», liefert Taubenschlag in seinem 1916 veröffentlichten Strafrecht lediglich ein Beispiel, im Law of Greco-Roman Egypt von 1944 dann vier. Beim ersten Beleg handelt es sich um die häufig zitierte Eingabe einer Frau, der im jüdischen Bethaus ihr Kleid weggenommen wurde32. Später kommen noch zwei weitere Kleiderdiebstähle und ein Kleintierraub hinzu33.
Mustert man die Eingaben wegen Diebstahls durch, finden sich zahlreiche weitere Beispiele. Allein aus dem Zenonarchiv sind es sechs Fälle. Einmal wurde das Material für Rankgerüste aus einem Weingarten weggetragen34; ein anderes Mal schreibt Zenon an die Phylakiten, dass nachts eine Weinkaraffe entwendet wurde35; dann werden zwei seiner Esel von Räubern mitgenommen36. Drei Beispiele finden sich hundert Jahre später im Archiv des königlichen Schreibers Dionysios37. Insgesamt habe ich bislang 24 Fälle gezählt, hinzu kommen zwei Eingaben, in der ἀπηλλάγηсαν ἔχοντεс anstelle von οἴχομαι ἔχων verwendet wurde38. Eine genaue thematische Tendenz zu einer bestimmten Art des Diebstahls lässt sich nicht ausmachen. Unter den Fällen sind mehrere, meist nächtliche Einbrüche, aber auch Überfälle auf Reisende39.
Für die Typizität des Ausdrucks οἴχομαι ἔχων bezeichnend ist P.Frankf. 3, vermutlich eine Schreibübung oder eine Zusammenstellung von üblichen Floskeln. Diese Papyrusrückseite gibt mehrere Urkunden bzw. Urkundenteile untereinander wieder, ohne dass irgendein Zusammenhang erkennbar würde. Die Textbausteine für eine Diebstahlseingabe befinden sich unter Teilen einer Mitgiftvereinbarung und eines Mietvertrags. Keiner dieser Texte war jemals vollständig.
Οἴχομαι ἔχων ist der mit Abstand am häufigsten gebrauchte Ausdruck, um in Eingaben an die Beamten der Ptolemäerzeit eine Diebstahlshandlung zu beschreiben. Berücksichtigt man auch ähnliche Wendungen, erhöht sich die Fallzahl dieser Gruppe noch weiter. Damit dominieren in den Eingaben also Verben, in denen die Diebstahlshandlung als ein Haben oder Tragen begriffen wird. Neben οἴχομαι ἔχων sind ἀποφέρω und ἀφαιρέω häufig, wobei letztere bei bestimmen Diebstahlsarten bevorzugt werden: die Zusammensetzungen mit αἱρέω für Diebstähle auf offener Straße und im Zusammenhang mit Gewalttätigkeiten, die Zusammensetzungen mit φέρω für Einbruchsdiebstähle. Daraus kann man mehrere Konsequenzen ziehen.
Zunächst ist das Wissen um die Üblichkeit eines Ausdrucks natürlich hilfreich für die Rekonstruktion fragmentarischer Texte. So konnten etwa Bauschatz und Sosin bei einer Eingabe wegen eines nächtlichen Einbruchs, von dem rechts und unten ein erheblicher Teil fehlt, ein am Ende einer Zeile fehlendes ὤιχοντο vor ἔχοντεс am Anfang der folgenden Zeile ergänzen40. Genauso könnte man darüber nachdenken, in P.Tebt III.1 793, i, 27 lieber ἀπήνεγκαν anstelle von ἔκλεψαν zu ergänzen, was freilich an der Aussage des Textes wenig ändert.
Es lassen sich aber auf dieser Basis auch Überlegungen zur Vorstellung von dem anstellen, was einen Diebstahl im hellenistischen Ägypten ausmachte. In seiner rechtlichen Konstruktion ist dann «haben» das maßgebliche Element. Mit dieser Zentralität des Habens unterscheidet sich die Vorstellung eines Diebstahls sowohl von der heutigen als auch von der des klassischen Athens.
Im heutigen deutschen Strafrecht ist die Wegnahme das zentrale Abgrenzungskriterium. Zwar umfasst gerade dieses Wegnehmen auch die Begründung eigenen Gewahrsams, also ebenfalls ein Haben, doch ist dies nicht ausreichend. Ein solches rechtswidriges Haben kann auch aus einem Betrug (§ 263 StGB) oder einer Unterschlagung (§ 246 StGB) resultieren. Bei der Unterschlagung eignet der Täter sich eine Sache an, die er schon hat. Beim Betrug veranlasst der Täter sein Opfer durch eine Täuschung zu einer Vermögensverschiebung. Schwieriger ist der Fall, wenn ein Täter behauptet, er sei Polizist und beschlagnahme eine Sache. Die heutige Rechtsprechung sieht darin einen Betrug, denn der Täter greift hier nicht selbst nach dem Objekt, sondern lässt es sich geben. Für einen Diebstahl fehlt es also am Nehmen oder am Bruch des fremden Gewahrsams41. Hinter dieser Abgrenzung steht die Überlegung, dass der Betrug ein Selbstschädigungsdelikt sei, der Diebstahl hingegen ein Fremdschädigungsdelikt.
Die κλοπή der attischen δίκη κλοπῆc hat hingegen einen Aspekt der Heimlichkeit, der weder für den Diebstahl nach § 242 StGB, noch für den Diebstahl typisch ist, wie er in den Eingaben der Ptolemäerzeit erscheint42. Sehr deutlich wird dieser Bedeutungsaspekt in den byzantinischen Wörterbüchern, die κλέπτηс (Dieb) von καλύπτειν ableiten, was als verhüllen, bedecken oder verbergen übersetzt werden kann43. Er ist aber schon in klassischer Zeit vorhanden44. Gegenstand der δίκη κλοπῆc in Athen war aber, wie Cohen herausgearbeitet hat, ebenfalls ein rechtswidriges Haben, denn für eine Verurteilung reichte der Besitz eines gestohlenen oder verlorenen Gutes, wenn der legitime oder unbeabsichtigte Erwerb nicht bewiesen werden konnte45.
Die Zentralität des Habens für den Diebstahl im ptolemäischen Ägypten wird noch deutlicher, wenn man die Aufschriften der Eingaben auf der Rückseite in die Überlegung mit einbezieht: dort steht neben Datum und Namen «wegen 12 Drachmen», «wegen eines Mantels», «wegen eines Rindes und Leuten» oder «wegen des Wertes einer Kuh»46. Heute wird bei einer Anzeige oder auch später in der strafrechtlichen Akte das Delikt vermerkt – etwa «wegen Diebstahls».
Rechtswidriges Haben als verpflichtendes Element ist für die juristische Papyrologie nichts Ungewöhnliches. Dies erinnert an die alte Diskussion über die allgemeine Konzeption des Vertrages, wo ebenfalls ein unberechtigtes Haben als Basis der Ansprüche ausgemacht wurde47.
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1 Vgl. Taubenschlag (1916) 27; Taubenschlag (1944) 452-455. Auch die Ausführungen von Lippert (2008) beruhen noch auf Taubenschlag (1916).
2 Vgl. P. Heid. IX, S. 36.
3 Vgl. Di Bitonto (1968) 81; Di Bitonto (1976) 125; Bauschatz/Sosin (2004) 169, auch schon P. Frankf. S. 26.
4 Vgl. Rupprecht (1991), zur Frage, ob Straftaten gegen einzelne auch dem Einzelnen oblagen (wer hatte die Initiative, an wen fällt die Geldbuße). Bei Raub und Diebstahl hält er eine öffentliche Strafe für wahrscheinlich, nicht eine private Buße, da Strafe verlangt werde und diese nicht an den Wert des Gutes anknüpfe; anders: Helmis (1990); Bagnall (1991) verweist auf terminologische und konzeptionelle Probleme einer solchen Frage angesichts der fehlenden terminologische Präzision der Papyri.
5 Vgl. Baldwin (1963) – trotz des Titels umfasst diese Studie auch die ptolemäische Zeit, ebenso Drexhage (1988a und 1988b). Lewis (1986) 61 beobachtet im Kapitel über den Strategen Diophanes, dass die Gegner in Streitigkeiten über Diebstahl und Sachbeschädigung jeweils der gleichen Bevölkerungsgruppe angehörten, was auf eine starke Trennung des griechischen vom ägyptischen Zirkels deute; zum Banditenbegriff, vgl. McGing (1998), dazu die Anmerkung von Lewis (2000) sowie allgemeiner Shaw (1984 und 1990); zum literarischen Räuberdiskurs: Grünewald (1999, engl. 2004) und Riess (2001).
6 Vgl. P.Heid. IX, S. 28.
7 Vgl. Lagger (2006, 2008 und 2009); Whitehead (2007).
8 Vgl. Cohen (1983), 6-7 in Anlehnung an H.L.A. Harts «standard case».
9 Vgl. Di Bitonto (1968) 81-82.
10 P.Hib. I 148, 3-4 (= P.Yale I 26):… ἐ̣ὰν δέ τικλέπτ̣ω̣ν̣ ἢ̣ [νοεφιζό]|μ̣ενοс ἁλίcκ̣ηται Π[ό]ροс ἀποτειсά̣[τω τὸ βλάβοс διπ]λ̣ο̣ῦν.
11 Grenfell/Hunt: Ausbildungsvertrag; Westermann (1948) 37: paramone, «general service contract»; Samuel, JJP (1964) 309: antichretisches Darlehen, so auch Oates, Samuel und Wells in P.Yale, da Terminologie am ehesten an solche Darlehen erinnere.
12 P. Petr. III 28, 5-6 (= M.Chr. 45; ca. 220 v. Chr.): [Ὧ]ρ̣οс Ἁρουήτιοс ὅτι ἐδραγματοκλέπτει τρίτοс.
13 C.Pap. Jud. I 14 (= PSI IV 393 = PSI VI S. XIII; 241 v. Chr.): παραγενόμενοι κλέπται; P.Enteux. 109 (222 v. Chr.): κ]λ̣έ̣π̣τ̣ουсιν; UPZ I 18 R (= P.Par. 23 R = C.Pap. Henstl 391; 63 v. Chr.): οὗτοс κλέψαс ἃ εἴχαμεν ἐν τῷ Cαραπιείωι.
14 P.Hib. I 127 (250 v. Chr.): ἐπεὶ οὐκ ὀλί]γον ἀργυρίον ἀφηρπακότεс; сυλάω: UPZ 19, 28-29 (= P.Par. 22; 163 v. Chr.).
15 P.Enteux. 29 (218 v. Chr.).
16 Vgl. LSJ s.v.; Cohen (1983) 17: «failure or refusal to return or repay when one is legally obliged to do so».
17 ἐκδύω: P.Enteux. 75 (= P.Lill. II 38; 222 v. Chr.) Alternativformulierung im Rechtsschutzantrag «wenn es sich erweist, dass…»; P.Enteux. 83 (=P.Lille II 42 = M.Chr. 8 = C.Pap. Hengstl 45; 221. v. Chr.) – Abnehmen des Mantels, dessen Rückgabe erbeten wird. περικόπτω: P.Cair. Zen. II 59145 (= C.Ptol. Sklav. 207; 256 v. Chr.). ἀπόλλυμι: P.Cair. Zen II 59145 (= C.Ptol. Sklav. 207; 256 v. Chr.): ἔсτιν δὲ τὸ καθ’ ἓν ὧν ἀπώλεсα; ähnlich P.Col. III 53 (250 v. Chr.), wo nachts Sesam aus einem Speicher und P. Tebt. III 802 (135 v. Chr.), wo ein Mantel während eines Überfalls auf ein Schiff verloren gehen.
18 P.Enteux. 75 (222 v. Chr.): καὶ τὸ ἱμάτιόν μου ὃ περιεβεβλήμην ἀφείλοντο.
19 P.Enteux. 83, 5 (221 v. Chr.): τό τε περιτραχηλίδιον έκ καθορμίων λιθίνων ἀφείλετό μ[ου.
20 P.Gurob 8 (= Sel. Pap. II 334 = C.Pap. Jud. I 21; 210 v. Chr.): ἀφεί[λον]το [ἀμ]πελουργικὸν δρέπανον.
21 P.Cair. Zen. III 59379 (254 v. Chr.) – Schweinediebstahl auf offener Straße; P.Cair. Zen. III 59350 (245 v. Chr.) – Opfertier; ähnlich: P. Lille I 8 (2. Hälfte 3. Jh.); PSI III 169 (118 v. Chr.).
22 P.Tebt. III 920 (1. Hälfte 2. Jh.); P.Tebt. I 230 (2. Hälfte 2. Jh.); SB I 4309 (3. Jh. ?).
23 UPZ I 10, 9 (= P. Lond. I 45; 160 v. Chr.): καὶ τῶν ἀπ’ αὐτῆc φορτίων διενηνεγμένων; 21: περὶ τῶν διενηνεγμένων φορτίων); UPZ I 11, 7 (= P.Par. 6; 160 v. Chr.): τῶν ἀπ’ αὐτῆc φορτίων διενηνεγμένων.
24 UPZ II 187, 14-15 (= P.Par. 6; 127 v. Chr.)
25 P.Enteux 28 (= P. Lille II 39; 218 v. Chr.).
26 Falsch ist der Hinweis auf BGU III 1835 (nach 51/50 v. Chr.), wo die Beschreibung der Diebstahlshandlung nicht erhalten ist.
27 P.Heid. VIII 421 (201 bzw. 177 v. Chr.).
28 P.Tebt. III.1 727 (184 v. Chr.).
29 P.Yale I 53 (150 v. Chr.).
30 P.Oxy. XII 1465 (ca. 100 v. Chr.).
31 P. Würzb. 5 (31 v. Chr.).
32 P.Lille II 35, 4 (= W.Chr 56 = P.Enteux. 30 = C.Pap. Jud I 129; 218 v. Chr.).
33 Kleiderdiebstähle: P. Tebt. III.1 733, 12 (143 v. Chr.); P.Tebt. III 784 (Anf. 2. Jh.v. Chr.). Kleintierraub: BGU VI 1253 (2. Jh. v. Chr.).
34 PSI IV 393 (= C.Pap. Jud. I 16; 241 v. Chr.).
35 PSI IV 396 (241 v. Chr.).
36 P.Cair. Zen. IV 59659 (nach 241 v. Chr.).
37 P. Heid. IX 423, 425 und 428 (alle 158 v. Chr.).
38 Es handelt sich um:
– SB XXII 15462 (= C.Ptol. Sklav. I 45 = P.Cair. Zen. IV 59625 + P.Lond. VII 2093 + 2129 + PSI VI 563; 255 v. Chr.) – οἴχητο ἔχω̣ν̣.
– SB XVIII 13160 (244/219 v. Chr.) – ᾤχοντ’ ἔχοντεс сυρίαν γυναικείαν.
– PSI IV 393 (= PSI VI S. XIII = C.Pap. Jud. I 14; 241 v. Chr.) – κλέπται [πρὸ τῆc ις ἀπόλωλε ἐκ τοῦ]τινὲc ὤιχοντο ἔχοντεс ἐκ τοῦ…
– PSI IV 396 (241 v. Chr.) – ὤιχοντο ἔχοντ[εс οἴνου] κεράμια.
– P.Cair. Zen. IV 59659 (nach 241 v. Chr.) – ἃ ᾤχοντο ἔχοντεс, ὧν ἓν ἄρρεν βαδιοτικὸν λευκόν.
– P.Coll. Youtie I 7 (224 v. Chr.) – ὤιχοντο δ’ ἔχοντεс ποδανιπτῆρα χαλκοῦν μέγαν.
– P.Lille II 35 (= W.Chr 56 =P. Enteux. 30 = C.Pap. Jud. I 129; 218 v. Chr.) – αὐτὸ ᾤχετο ἔχων.
– P.Petr. III 32 (g) (217 v. Chr.) – ᾤχετο ἔχων μου ἱμάτια Αἰγύπτια.
– P.Frankf. 3 (212 v. Chr.) – ᾤχοντο ἔχοντεс αὐτῆc κρόκην.
– P.Köln XI 441 (211 v. Chr.) – ο̣ἴχον̣[ται] ἔ̣χον̣τ̣εс
– P.Tebt. III.1 784 (Anf. 2. Jh. v. Chr.) – ᾤχητ[αι ἔχων] τὸ ἱμάτιον.
– P.Tebt. III.1 796 (184 v. Chr.) – ο̣ἴχονται [ἔ]χοντεc̣ ἐν τῆι προοτάδι сφυρίδα cίτων.
– P.Tebt. III.1 797 (2. Jh. v. Chr.) – ᾤχοντο ἔχοντεс τὸ μέλι̣ [τε κα]ὶ̣̣ τὸ ὀοθόνιον.
– SB VIII 9792 (162 v. Chr.) – ωἴχεοθαι ἔχοντάc μου ὄνον.
– P.Heid IX 423 (158 v. Chr.) – ὠχῆсθαι ἔχονταс τὰ ὑπογεγρ(αμμένα).
– P.Heid. IX 425 (158 v. Chr.) – ὠχ̣ῆcθ̣αι ἔχοντ[α]c κ̣ρ̣ι̣θίνων.
– P.Heid IX 428 (158 v. Chr.) – ὠχῆсθαι ἔχον[τ]α̣c̣ λ̣α̣…
– P.Texas inv. 2 (154 v. Chr.) – Bauschatz/Sosin (2004) κ̣[αί ὤιχοντο] ἔχοντεс.
– BGU VI 1253 (2. Jh. v. Chr.) – ᾤχοντο ἔχοντεс βουλόμενοι ἃ…
– P.Tebt. III.1 733 (143 v. Chr.) – ἐκβιαοάμενον οἴχ[ε]сθαι ἔχοντα α̣ὐ̣ό̣τ̣ν.
– SB XIV 12089 (130 v. Chr.) – ᾤχῆсθαι ἔχονταс εἰc (πυροῦ ἀρτάβαс) ι̣δ.
– P.Tebt. I 52 (114 v. Chr.) – ᾤχοντο ἔχοντεс τ[ὴ]ν τῆc οἰκίαс μου сυγγραφἠν καὶ ἕτερα βιοτικὰ cύμβολα.
– P.Lips. II 126 (2./1. Jh. v. Chr.) – ᾤχοντο ἔχοντεс εἰc χα(λκοῦ) τά(λαντα) ι.
– P.Dion. 10 (= P.Rein. I 17 = Jur. Pap. 81; 109 v. Chr.) – καὶ τὰ ἄλλα τὰ ἐν τῶι αὐτῶι τόπωι ᾤχον[τ]ο̣ ἔχοντεс, ὧν τὸ καθ’ ἓν ὑπόκειται.
– P.Fay. 12 (= P.Lond. III 818 descr. = M.Chr. 15; nach 104/103 v. Chr.) – ἀπηλλάγηсαν ἔχοντεс.
– BGU VIII 1832 (51 v. Chr.) – ἀπηλλάγηсαν ἔχοντεс.
39 Nächtliche Einbrüche: SB XVIII 13160 (244 bzw. 219 v. Chr,); PSI IV 396 (241 v. Chr.); P.Dion. 10 (= P.Rein. I 17 = Jur. Pap. 81; 241 v. Chr.); P.Tebt. III.1 796 (184 v. Chr.); P.Heid. IX 425 (158 v. Chr.); SB XIV 12089 (130 v. Chr.); P.Tebt. I 52 (114 v. Chr.); auch C.Pap. Jud I 14 (= PSI IV 393 = PSI VI S. XIII), wo Stangen für Rankgerüste entwendet werden, gehört wohl in diese Gruppe. Überfälle auf Reisende: P.Coll. Youtie I 7 (224 v. Chr.); SB VIII 9792 (= P.Zaki Aly 8; 162 v. Chr.); P.Heid. IX 428 (158 v. Chr.); P.Tebt. III.1 797 (2. Jh. v. Chr.).
40 Bauschatz/Sosin (2004) 168.
41 Zu diesem Standardproblem der Abgrenzung etwa Fischer (2012) § 242 Rn. 27 mit weiteren Nachweisen.
42 Vgl. Lagger (2008) 475, Anm. 4.
43 Vgl. Suda s.v. κλέπτηс (κ 1738) und ps.-Zonar. 1216, 17-19, s.v. κλέπτηс.
44 LSJ s.v. κλοπή und κλέπτω.
45 Vgl. Cohen (1983) 91.
46 Drachmen: P.Enteux. 28 (= P.Lille II 39; 218 v. Chr.) – περὶ (δραχμῶν) ιβ. Mantel: P.Enteux. 83 (= P.Lille II 42 (= M.Chr. 8 = C.Pap. Hengstl 45; 221 v. Chr.) – περὶ ἱματίου. Rind und Leute: PSI IV 366 (250 v. Chr.) – ßoὸc καὶ cώματοс. Kuh: P. Enteux. 109 (222 v. Chr.) – περὶ] βoὸc τιμῆc.
47 Vgl. Rupprecht (1993) 113-114.