Frösche 1119-1410
Aristophanes der fleissige Spötter
Dem verehrten Freund, der selber in geistreicher Adaptation griechische Komödien mit seinen Studenten zur Aufführung gebracht hat, erlaube ich mir zu seinem Ehrentag eine kleine παιδιά zu überreichen, die von einer wenig beachteten Seite her einen Einblick in die Arbeitsweise des κωμικός par excellence zu gewinnen versucht. Die Komiker sind sich des Werts ihrer Kunst bewusst und vor allem auch der Voraussetzungen, die zum Erreichen ihres hochgesteckten Ziels: der Dichtung einer erfolgreichen Komödie, gefordert sind. Dieser Erfolg fällt ihnen nicht leichthin in den Schoss. Die Aufführung einer Komödie, beteuert Aristophanes, sei „die allerschwerste Arbeit, viele versuchen sie, aber wenigen ist die Muse geneigt“ (Eq.515-517). Die grosse Kunst verlangt eine ausserordentliche Anstrengung: „Das“, verkündet schon Kratinos am Schluss seiner Cheirones, „wurde in zwei Jahren mit Mühe von uns ausgearbeitet“ (fr. 255). Dass sie beide hart arbeiteten an ihren Komödien, glauben wir ihnen gerne. Es ging ja auch um nichts Geringeres als um den Sieg im Wettkampf mit ihren dasselbe Ziel erstrebenden Konkurrenten. Das war jeder Mühe wert. Aber, wie sie gearbeitet haben, davon wissen wir kaum etwas. Das sollte man ja den Komödien auch nicht ansehen.
Aristophanes gibt uns nun aber in einer Szenenfolge der Frösche (1119-1410) eine Gelegenheit, ihm dabei etwas über die Schultern zu blicken. Diese Szenen bieten für unsere Untersuchung zwei Vorteile. Zum einen handelt es sich um einen in sich geschlossenen Abschnitt mit einer zusammenhängenden fortlaufenden Handlung, und zum andern geht es darin um einen einheitlichen Gegenstand, um die Verspottung der beiden Tragiker Aischylos und Euripides. Wir können natürlich nicht die ganze Arbeit beobachten, die Aristophanes auf diese Szenen verwendet hat, aber wenigsten einen bestimmten fest umrissenen Teil davon, nämlich: wie er vorgegangen ist, um sich das Material für seinen Spott zu beschaffen, und, da es sich dabei um die Tragödie handelt, ist auch der Gegenstand selber nicht ohne Interesse. Mit ihm haben sich unter anderen Gesichtspunkten schon viele Interpreten beschäftigt, auf deren Vorarbeiten wir hier zurückgreifen können1.
Nach dem grossen Agon (895-1097), der zu keiner Entscheidung geführt hat, werden die Tragödien der beiden Kontrahenten in einer Art „Zweitem Teil“ (1098-1410) unter speziellen Gesichtspunkten einer erneuten Prüfung unterzogen. Geprüft werden ihre πρόλογοι (1119-1247), die μέλη (1248-1364) und das βάρος ihrer Verse (1365-1410). Beide Dichter erhalten ihr Teil am Spott, das Hauptopfer ist aber natürlich Euripides. Hier können wir nun genau beobachten, wie und woher Aristophanes sich das Material für seinen Spott beschafft hat.
I
Als erster kommt Aischylos mit den πρόλογοι dran (1119-1176). Euripides beanstandet, die Exposition der Situation sei unklar (1122), und die Sprache des Aischylos entspreche nicht den Erfordernissen der Orthoepeiea (1156f. 1173f., vgl. 1181). Das weist er nach anhand einer pedantischen Kritik von sieben (in den Handschriften verlorenen) Versen aus dem Anfang des Prologs der Choephoren (1126-1128 = Ch. 1-3, fr. 1 West [nochmals 1138 = Ch. 1; 1152-1153 = Ch. 2-3]; 1142-1143a = Ch. 3 b c, fr. 3; 1172-1173a = Ch. 4-5, fr. 4).
Dann kommt Euripides an die Reihe (1177-1247). Von ihm wird nicht nur ein Prolog kritisiert, sondern es werden eine ganze Reihe verspottet, als erster der Prolog seiner Antigone. In den ersten beiden Versen (1182 = fr. 157; 1187 = fr. 158) werden ihm unsinnige Behauptungen vorgeworfen (1184-1186. 1188-1196). Hier zielt die Kritik auf den Inhalt seiner Aussagen. Dann aber greift Aristophanes zu einem anderen, typisch komischen Mittel, um die Prologe des Euripides der Lächerlichkeit preiszugeben2. Umständlich lässt er Aischylos ankündigen, er werde mit einem einzigen ληκύθιον die Prologe des Euripides zugrunderichten (1198-1204). Was das bedeutet, erfährt das Publikum genauer erst bei der Anwendung auf den Prolog einer nicht erhaltenen Tragödie (1206-1208a =fab. inc. fr. 752). Daran fügt Aischylos den scheinbar harmlosen Halbvers ληκύθιον ἀπώλεσεν „… hat sein Oelfläschchen verloren“, der den vorhergehenden Versen des Prologs einen lächerlichen Sinn gibt. So, demonstriert er dann durch die Anfügung des Lekythion an fünf weitere Beispiele, sind “die“ Prologe des Euripides gebaut (1202-1205). Das Publikum weiss nicht zum voraus, was ihm da noch vorgesetzt wird, und wartet jedesmal mit Spannung auf den Lekythion-Effekt. Durch die entsprechende Anordnung der zitierten Prologe erreicht Aristophanes dazu noch eine merkliche Beschleunigung der Kadenz der Wiederholungen. Bei den ersten drei Beispielen muss das Publikum jedesmal auf den dritten Vers warten, bis das Lekythion angefügt werden kann (1206-1208a = fab. inc. fr. 752: 1211-1213a = Hypsipyle fr. 752; 1217-1219a = Stheneboia fr. 661), bei den zwei folgenden nur noch auf den zweiten (1225-1226a = Phrixos II fr. 819,1 s.; 1232-1233a = IT 1s.), dann kommt es sogar schon nach dem ersten (1238a = Meleager fr. 516,1a) – aber nein: wirklich geht es auch hier erst nach dem zweiten (1240-1241a = Meleager fr. 516,1 s.). Eine besondere Pointe folgt noch zum Abschluss. Euripides findet schliesslich doch noch einen Prologanfang, an den das Lekythion nicht angehängt werden kann (1244 = Melanippe docta fr. 481,1). Aber der Bomolochos Dionysos schwatzt voreilig drein, bevor das festgestellt wird (1245 s.), und verpatzt damit die letzte Chance des Euripides.
Ueberblicken wir den ganzen Abschnitt über die πρόλογοι, so sehen wir schon jetzt, wie fleissig Aristophanes gearbeitet hat. Um die gewünschten komischen Effekte zu erreichen, musste er das dafür geeignete Material aus den Tragödien der beiden Dichter sehr sorgfältig auswählen, oder genauer gesagt: zusammensuchen. Er zitiert Prologe aus neun Tragödien. Dabei konnte er für seine Zwecke nicht einfach mechanisch die initia der Tragödien benutzen. Für Aischylos konzentriert er sich auf sieben Verse aus dem Prolog der Choephoren. Daraus hat er zusätzlich zum Anfang (1126-1128 = Ch. 1-3, fr. 1 West) noch zweimal zwei weitere Verse ausgehoben (1152-1153 = Ch. 3 b c, fr, 3 und 1172-1173 = Ch. 4-5, fr. 4), die innerhalb des Prologs nicht unmittelbar aufeinander folgten. Er hat also einen grösseren Teil des Prologs abgesucht, um gerade diese Verse zu finden, die das für seine Kritik passende Material lieferten. Auch in einem anderen Fall können wir feststellen, dass er mehr als nur die Anfangsverse durchgesehen hat. Aus dem Meleager des Euripides zitiert er zwei Verse (1240-1241a = fr. 516,1 s.), die nicht den Anfang des Prologs bildeten. Vor dem zitierten Fragment (fr. 516) standen noch mindestens fünf Verse (fr. 515), die zur Anfügung des Lekytions keine Gelegenheit boten. Deshalb hat er jene späteren Verse (fr. 516) ausgewählt, die für seinen Zweck passend waren. Dass nicht einfach alle Tragödien des Euripides für das Spiel mit dem Lekythion geeignet waren, zeigt er selber mit dem Zitat aus der Melanippe docta (1244 = fr. 481,1). Auch der Prolog der Antigone (1182 = fr. 157; 1187 = fr. 158) kommt dafür nicht in Frage, von den erhaltenen Tragödien einzig derjenige der Taurischen Iphigenie, der ihm auch nicht entgangen ist (1232-1233a = IT 1s.). Soweit wir das überhaupt nachprüfen können, deutet alles darauf hin, dass er die Tragödien des Euripides im Hinblick auf für seinen Zweck verwendbare Prologe gründlich durchsucht hat. Mit den Prologen der sechs Tragödien, die er für das Lekythion-Spiel verwendbar fand, hat er noch mit spezieller Sorgfalt gearbeitet. Er ordnete sie so an, dass er damit die Beschleunigung erreichte, die auf den dramatischen Höhepunkt am Schluss der Szene hinführt.
II
Auch im folgenden Abschnitt über die μέλη sehen wir Aristophanes mit beachtlichem Fleiss an der Arbeit. Hier singen die beiden Dichter je zwei Parodien der Gesänge des anderen Dichters. Wieder kommt Aischylos als erster dran (1261-1300). Die Parodien seiner μέλη sind viel einfacher3. Sie sollen demonstrieren, dass Aischylos in seinen Chorliedern immer dasselbe wiederholt. Leider sind uns die Melodien nicht erhalten, die das wohl noch viel deutlicher zu Gehör brachten.
In der ersten Parodie (1264-1277) singt Euripides, begleitet von einem Doppelaulos, die ersten Verse von fünf Chorliedern des Aischylos4, die miteinander nichts zu tun haben. An jeden dieser Verse wird derselbe, Refrain’ angehängt, der nur im ersten Fall (1265) einen Sinn gibt, dann aber nur als sinnloses stereotypes Anhängsel die Monotonie der Aischyleischen Chorlieder lächerlich machen soll. Die Verse sind wörtliche Zitate aus fünf Stücken (1264 s. = Myrmidones fr. 132; 1266 s. = Psychagogoi fr. 273; 1269 s. = fab. inc. fr. 288; 1273 s. = Ἱέρειαι fr. 87; 1276 s. = A. 104).
In der zweiten Parodie (1284-1295) singt Euripides nochmals fünf Verse aus Chorliedern des Aischylos5. An jeden von ihnen wird jetzt als stereotypes Anhängsel die Imitation des Geräuschs eines Saiteninstruments: ϕλαττοθραττοϕλαττοθρατ angefügt. Auch hier sind alle fünf Verse wörtliche Zitate (1284 = A. 108 s.; 1286 = Sphinx fr. 236; 1289 = A. 111 s.; 1291 = fab. inc. fr. 282; 1293 = Θρῆσσαι fr. 84).
Um die Verse zu finden, die sich für die Parodie der μέλη in den Chorliedern des Aischylos eigneten, musste Aristophanes weiter in die Texte hineinschauen als bei den πρόλογοι, wo er nur die Anfänge durchzusehen brauchte. Für typische Beispiele der Manier des Aischylos erwies sich der Agamemnon als besonders ergiebig. Aus ihm zitiert Aristophanes sowohl in der ersten wie in der zweiten Parodie, zusammen drei Verse. Dazu fand er für diesen Zweck geeignete Verse in Chören von sieben weiteren Stücken, darunter auch zwei Satyrspielen (Sphinx und Psychagogoi).
Von ganz anderer Art sind die zwei μέλη, in denen die Lieder des Euripides parodiert werden. Nicht etwa, dass Aristophanes hier weniger fleissig gewesen wäre als bei den vorhergehenden Parodien. Er hat dafür zwei virtuose „Arien“ komponiert, eine kürzere von 14 Versen (1309-1322), dazu ein kleines dialogisches Intermezzo (1323-1328), und eine längere von 42 Versen (1331-1363). Aber das sind ganz frei gestaltete Parodien, die auffällige formale und inhaltliche Elemente der Tragödien des Euripides mit übersteigerter Deutlichkeit als solche lächerlich machen sollen. Dafür brauchte Aristophanes weniger wörtliche Zitate. Deshalb können wir hier weniger präzis verfolgen, welche Texte des Euripides er durchgesehen hat, um sich die Vorlagen für diese Nachbildungen der Euripideischen Manier zu beschaffen.
Immerhin lässt sich auch hier die Herkunft einiger dramatischer Motive und sogar einzelner Verse eindeutig feststellen. Das gilt besonders für die erste der beiden Parodien (1309-1322)6. Sie ist wesentlich dichter mit Zitaten ausgestattet. Mit dem Klappern von Tonscherben (1305-1307) lässt Aristophanes in einer grotesken Pantomime die „Muse des Euripides“ (1306) den an ein Baby gerichteten (1322) Gesang begleiten, den Aischylos singt. Damit verweist er auf eine Szene, in der Hypsipyle als Amme zur Begleitung mit Castagnetten den kleinen Opheltes in den Schlaf singt (Hypsipyle fr. I, ii p. 26 Bond). In den Gesang sind neben Anklängen an Hypsipyle Verse aus drei weiteren Tragödien des Euripides eingefügt (1309-1312 = fab. inc. fr. 856; 1316 = Meleager fr. 523; 1317-1318 = El. 435-437).
Auch die exaltierte, in fünf ungleichen Abschnitten verlaufende Handlung zu der überlangen Monodie (1331-1363)7, die ebenfalls Aischylos singt, wird von derselben stummen Person gemimt. Sie verschwindet am Schluss (sie läuft 1362f. davon). Darin hat er nur noch ein wörtliches Zitate untergebracht (1356 = Κρῆτες fr. 479).
III
Umgekehrt verfährt er dann wieder in der angeblich entscheidenden (1366) dritten Probe, in der Dionysos die Kunst der Dichter wie ein Käseverkäufer auswägen muss (1368 s.). In der Wägeszene (1378-1410) soll das Gewicht ihrer Verse geprüft werden (1367). Dionysos legt das Procedere fest. Jeder der beiden Dichter „legt“ (spricht) seinen Vers in eine Waagschale. Diese dürfen sie nicht loslassen, bevor Dionysos das Signal κοκκύ gibt (1378-1381). Dreimal wird eine solche Wägung durchgeführt, Jedesmal sagt als erster Euripides, dann Aischylos seinen Vers (1382-1383. 1391-1392. 1402-1403), und jedesmal senkt sich die Waagschale des Aischylos8. Wieder lässt Aristophanes beide Dichter die Verse aus ihren Tragödien wörtlich zitieren. Hier brauchte er Verse mit einem „gewichtigen“ Inhalt. Er fand sie in sechs Tragödien (E.: 1382 = Med. 1; 1391 = Antigone fr 178; 1402 = Meleager fr. 531; A.: 1383 = Philoktetes fr. 249; 1392 = Niobe fr. 161,1; 1403 = Glaukos Potnieus fr. 32).
IV
Zu den in den πρόλογοι (25) und in den μέλη (23) wörtlich zitierten Versen kommen in der Wägeszene sechs weitere hinzu. Im ganzen sind es 54. Sie stammen aus 24 Stücken – Tragödien und mindestens zwei Satyrspielen – 12 von Aischylos, 12 von Euripides. Drei Tragödien zitiert er mehrmals: Aischylos Agamemnon (1276. 1284. 1289), Euripides Anti – gone (1282. 1287. 1391) und Meleager (1240. 1316. 1402). Er zitiert auch Verse aus Stücken, die schon die antiken Gelehrten nicht mehr nachweisen konnten, weil sie schon früh verlorengegangen waren (A.: fab. inc. fr. 202. 238; Eur.: fab. inc. fr. 752. 856). Aristophanes verfügte also über einen beträchtlichen Fundus von Stücken des Aischylos und des Euripides, in dem er die entsprechenden Verse und szenischen Motive fand. Daraus hat er gezielt solche Verse ausgewählt, die präzis für die speziellen Erfordernisse der jeweiligen Szene passen, und er zitiert sie genau.
Es stellt sich also die Frage: Wie ist Aristophanes zu diesen für seine Zwecke so wichtigen Zitaten gekommen? – Wenn wir ihm auch ein überdurchschnittlich gutes Gedächtnis und eine besonders scharfe Beobachtungsgabe für die Eigentümlichkeiten der Dichter zubilligen, die er hier so virtuos verspottet, so werden wir doch kaum annehmen wollen, dass er alle diese Tragödien und Satyrspiele auswendig kannte, und dass er alle diese verschiedenartigen Verse aus dem Gedächtnis wörtlich zitieren konnte. Er gibt selber in den Fröschen einige Hinweise, die zur Beantwortung dieser Frage hilfreich sein könnten. Dreimal ist von Büchern die Rede, die in unserem Zusammenhang eine Rolle spielen. Schon gleich zu Beginn prahlt Dionysos, er sei bei Kleisthenes „aufgestiegen“ und habe in der Seeschlacht auf dem Schiff die Andromache gelesen (52-54). Wenn sich die Angeberei mit der Seeschlacht auch als reines Geflunker erweist, so erregt doch die Annahme, man könne eine Tragödie des Euripides als Buch lesen, als solche keinen Anstoss. Das weiss offenbar jedermann. In der Wägeszene ist dann die Rede von τὰ βιβλία, die Euripides mitsamt seiner ganzen Familie auf die Waage mitnehmen soll, um gegenüber Aischylos an Gewicht zuzuzulegen (1407-1410). Zwar ist nicht eindeutig zu bestimmen, ob damit „die Bücher“ mit den Tragödien des Euripides gemeint seien, oder ob Euripides damit als Repräsentant der sophistsichen Bücher charakterisiert werden soll, deren gefährliche Doktrinen er vertrat (943, vgl. 100-102. 878-894). Immerhin werden die Bücher auch hier im Zusammenhang mit Euripides erwähnt.
Zweifellos gab es damals Bücher mit den Tragödien des Euripides, und nicht nur des Eurιpides, sondern auch des Aischylos und anderer Tragiker, sowie auch der Komiker9. Leider wissen wir nicht, wie die Bücher der dramatischen Autoren aussahen, bevor sie von den hellenistischen Gelehrten bearbeitet wurden10. Aber, wenn es keine schriftlich fixierten Texte von ihnen gegeben hätte, wären weder Tragödien und Satyrspiele noch Komödien erhalten geblieben. Wir dürfen also annehmen, dass auch Aristophanes Zugang zu solchen schriftlich fixierten Texten des Aischylos und des Euripides hatte, und dass er in ihnen nachsuchte und dort die Verse fand, die er in diesen Szenen der Frösche wörtlich zitieren konnte.
V
Und das Publikum? Was konnte und was sollte es mit diesen wörtlichen Zitaten anfangen? Daran dachte auch schon Aristophanes. Bevor er mit der Prüfung der Tragödien in den drei Abschnitten des Zweiten Teils (1119-1410) beginnt, bereitet er seine Zuschauer in einem lebhaften Lied (1099-1118) darauf vor, was sie jetzt zu erwarten haben. Der Chor ermuntert die beiden Kontrahenten, nun den Kampf nicht aufzugeben, sondern zum Streit zu nutzen, was sie ja schon im Vorrat11 bereit hätten, und zu wagen, λεπτόν τι καὶ σοϕόν, „etwas Raffiniertes und Gescheites“, zu sagen, (1103-1108). Der Wettstreit soll weitergehen, jetzt aber mit einem anderen Gegenstand als im Agon. Sie sollen dazu antreten mit dem, was sie bereit haben, – mit ihren Tragödien – und einander mit raffinierten Argumenten attackieren.
Aber vorher muss noch ein Bedenken ausgeräumt werden, und das ist nun der entscheidende Punkt: Können die Zuschauer das überhaupt verstehen? – Aber sicher: Die beiden müssen keine Angst haben, die Zuschauer seien so ungebildet, dass sie das Raffinierte (τὰ λεπτά), nicht verstehen; denn sie sind alte Routiniers, und jeder hat ein βιβλίον und versteht die feinen Pointen (τὰ δεξιά). Alles sollen sie angreifen ohne Bedenken der Zuschauer wegen. Das sind doch gescheite Leute (σοϕοί) (1109-1118). Mit dieser vollmundigen captatio benevolentiae bringt er seine Zuschauer in eine wohlgestimmte Erwartung. Dass jeder ein Buch habe, bedeutet nichts anderes als, dass sie alle gebildete Leute seien12. Also: Jeder kann verstehen, was jetzt kommt. Aber das ist doch eine kühne Behauptung. Was sollten sie auch anfangen mit einem Buch? Die meisten konnten wohl kaum lesen.
Doch so ernst ist das gar nicht gemeint. Aristophanes führt, wie so oft, die Erwartungen seines Publikums sanft in die Irre. Zunächst sieht es wirklich so aus, als würden nun „die“ Prologe nach gelehrten Regeln auf die Wortbildung und auf die Orthoepeia hin geprüft, beginnend mit denen des Aischylos (1119. 1122-1176. 1177-1179). Zweimal werden sogar Verse wiederholt (1137 s. 1156 s.), um „Fehler“ genauer festzustellen, und Aischylos gibt Gegenerklärungen (1144-1146. 1160 s.). Die Diskussion droht zu einer mühsamen Rechthaberei über gelehrte Chinoiserien zu werden, die das Publikum wohl wenig interessierten (1129-1176). Doch nun setzt Aristophanes zu einer anderen Gangart an. Der Prolog der Antigone des Euripides wird rasch mit witzigen Einwendungen erledigt (1182-1196), dann sogleich noch sechs Prologe mit der Posse des Lekythion-Spiels (1206-1241). Und so geht es weiter mit den μέλη des Aischylos, wo an jeden Vers ein läppisches Anhängsel angefügt wird (1264-1277. 1284-1295). Erst recht possenhaft sind die beiden μέλη des Euripides, das „Wiegenlied“ der Hypsipyle (1309-1322) und die Monodie der Alten, der ihr Hahn entflattert ist (1329-1363), die beide der knorrige Aischylos singt, während „die Muse des Euripides“ sie pantomimisch zur Anschauung bringt. Und zuletzt folgt noch das absurde “Käsewägen“ der Verse (1381-1406). Schlag auf Schlag folgen sich die Scherze, und wenn ein Thema ausgereizt ist, wird ohne Uebergang mit dem nächsten weitergefahren (1248-1250. 1364-1366).
Da können alle Zuschauer lachen, auch wenn sie nichts von den Feinheiten der Kritik an den Tragödien verstehen. Aber selbst von den guten Kennern der Tragödien wird wohl kaum einer imstande gewesen sein, spontan die Herkunft all der Verse zu erkennen, die da in rascher Folge von der Bühne her auf ihn niederprasselten. Umso bemerkenswerter ist es, mit welcher Sorgfalt Aristophanes alle die originalen Verse zusammengesucht hat, die er als wörtliche Zitate dem Spott auf die beiden Dichter zugrundelegen konnte. Er hat es sich offensichtlich nicht leicht gemacht, und einen beachtlichen Fleiss darauf verwendet, die beiden Tragiker ungeachtet des ausgelassenen Possenspiels im „Originalton“ einander gegenüberzustellen.
Bibliographie
Dover, K. (1993) – Aristophanes. Frogs, Oxford.
Kassel, R. (1994) – „Zu den Fröschen des Aristophanes“, Rheinisches Museum 137, 33-53.
Nauck, A. (19542) – Tragicorum Graecorum Fragmenta, Leipzig.
Radt, S. (1985) – TrGF vol. 3, Aeschylus, Göttingen.
Rau, P. (1967) – Paratragodia, München.
Russo, C. F. (1994) – Aristophanes. An author for the stage, London / New York.
Sommerstein, A. H. (1996) – The comedies of Aristophanes vol. 9, Frogs, Warminster.
Turner, E. (19772) – Athenian books of he fifth and fourth centuries B. C., London.
Zimmermann, B. (1995) – Untersuchungen zur Form und dramatischen Technik der Aristophanischen Komödie Bd. 2, Königstein / Ts.
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1 Die von Aristophanes zitierten Verse aus Tragödien des Aischylos und des Euripides sind nachgewiesen in den Kommentaren. Es genügt hier, auf Dover 1993 und Sommerstein 1996 (je mit weiterer Literatur) zu verweisen (die Fragmente des A. zitiert nach Radt 1985, des E. nach Nauck, 19642). Es geht aber hier nicht um die Diskussion dieser Zuweisungen. In den Fällen, wo die Zuweisung umstritten ist, habe ich (ohne Diskussion) diejenige gewählt, die mir am plausibelsten erscheint. Das gilt besonders für die Fragmente, deren Herkunft schon die antiken Gelehrten nicht mehr identifizieren konnten. Hier muss damit gerechnet werden, dass es sich um Tragödien handelt, deren Text früh verloren ging und nicht in die Bibliothek von Alexandria kam (A.: 1291 = fab. inc. fr. 282; 1269 = fab. inc. fr. 288; E.: 1206-1208 = fab. inc. fr. 752; 1309-1312 = fab. inc. fr. 856). Ferner zeigt es sich, dass Aristophanes, wo wir das kontrollieren können, die Verse, die er anführt, wörtlich zitiert (A.: 1276 = A. 104; 1284 = A.108 s.; 1289 = A. 111 s; E.: 1232 s. = IT1 s.; 1317 s. = El.435-437; 1392 = Med.1). Deshalb wird mit recht angenommen, dass es sich auch in den Fällen, in denen wir das nicht nachweisen können, um wörtliche Zitate handelt.
2 Aehnlich geht er auch vor Av.974-989, wo fünfmal λαβὲ τὸ βιβλίον anghängt wird, und Ec.221-228, neunmal ὥσπερ καὶ πρὸ τοῦ. Zum ληκύθιον, wo es nicht nötig ist, pornographische Nebenbedeutungen anzuwenden, s. Sommerstein 1996, 263-265.
3 Vgl. dazu Rau 1967, 125f.
4 Vgl. dazu Zimmermann 1995, 29f.
5 Vgl. dazu Zimmermann 1995, 30f.
6 Vgl. dazu Zimmermann 1995, 30f.
7 Vgl. dazu Rau 1957, 131-136; Zimmermann 1995, 13-21.
8 Am Ende der Wägeszene (nach V. 1410) sind wohl mehrere Verse ausgefallen, mit dem Ende der Wägeszene, der Antistrophe des Chorliedes 1370-1377 und dem Anfang der folgenden Szene, in dem Pluton dem Publikum vorgestellt wurde. S. dazu Kassel 1994, 52f. mit Anm. 44 und 45. Vergleichbare Ausfälle von Versen in den Schlusspartien der Komödien z. B. in der Nebenparabase der Wespen (nach V. 1282), Ausfall der Antistrophe und des Anfangs des Antepirrhema, und in der Exodos der Lysistrate (nach V. 1320).
9 Zum Buchwesen und zur Verbreitung der Bücher vgl. Turner 19772.
10 Aristophanes hat sich schon gleich nach der Aufführung Texte der Andromache und der Helena des Euripides verschafft, die er im folgenden Jahr in den Thesmophoriazusen parodierte. Die uns erhaltenen Wolken sind nicht aufgeführt worden und existierten nur als Buch. Die Texte der Komödien des Aristophanes (und wohl auch des Kratinos und anderer Komiker), die in Athen zugänglich waren, waren nicht vom Dichter selber für die Publikation bearbeitet. Besonders deutlich ist das feststellbar am Text der Frösche. Vgl. dazu Russo 1994, 203f.
11 S. dazu Rau 1967, 125.
12 Vgl. dazu Sommerstein 1996, ad 1109-1118, mit Literatur.