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Lykophrons Alexandra in den Ethnika des Stephanos von Byzanz

Margarethe BILLERBECK

Fribourg

„I più antichi commentatori che possiamo nominare sono Teone (epoca di Tiberio), la cui attività ci è nota attraverso Stefano di Bisanzio (s.v. ᾿Aργύρινοι, Kύτινα, Aἴνεια) e un Sestio la cui epoca non è conosciuta (schol. ad 1042). Se il risultato dei loro lavori non ci trae sempre fuori dalle difficoltà, è giusto dire che senza di loro comprenderemmo assai male il testo“. So schreibt André Hurst, der zur kommentierten zweisprachigen Ausgabe des Lykophron in der Reihe Biblioteca Letteraria Einleitung und Text beigesteuert hat1. Bei der Vertrautheit des Jubilars mit den dürren Resten, welche das frühbyzantinische Lexikon der Ethnika aus der antiken Exegese zu Lykophrons Alexandra herübergerettet hat, scheint ein kleiner Beitrag aus der Editionsarbeit am ,neuen‘ Stephanos nicht unangebracht2. Hellenistische Dichter haben bekanntlich eine Vorliebe für seltene Namen, gesuchte Varianten und dunkle Etymologien, und so überrascht es nicht, wenn sie als Gewährsautoren in dem geographischen Lexikon des Stephanos einen prominenten Platz einnehmen. In der Tat sind uns zahlreiche Fragmente von Euphorion, Rhianos, Parthenios und selbst Kallimachos nur durch die Ethnika überliefert. Bedenken wir dazu, dass dieses Werk allein in einer stark verdünnten Epitome auf uns gekommen ist, können wir für die Originalversion mit einem noch viel grösseren Zitatenschatz rechnen3. Als Quelle ersten Ranges für die Onomastik diente dem Byzantiner auch Lykophrons Alexandra. Von den 1474 Versen des Gedichts sind, wie Scheer ausmachte4, rund 175 in der uns erhaltenen lexikographischen und Scholienliteratur indirekt überliefert; davon fallen 67 allein auf die Ethnika. Im Gegensatz zu den bereits erwähnten Dichterfragmenten sind wir im Fall der Alexandra in der guten Lage, die direkte Überlieferung mit den Zitaten bei Stephanos vergleichen zu können. Dass dieser das Gedicht selbst konsultiert hatte, gilt allerdings als unwahrscheinlich. Geschöpft hat er – direkt oder, wie zuerst Richard Reitzenstein annahm, über die Ethnika seines Vorgängers Oros, – aus dem gelehrten Kommentar, welchen der bereits erwähnte Grammatiker Theon zu Lykophron abgefasst hatte5. Auf ihn verweist Stephanos dreimal, davon einmal durch blosse Namensnennung (ὡς Θέων), um im Artikel ’Αργυρῖνοι anhand von Lykophron (V. 1017) zu belegen, dass die Argyriner ein epirotisches Volk seien6. Ebenso nennt er Theons Kommentar zu Lykophron (1389) als Referenzquelle, um zu belegen, dass Kytina eine Stadt in Thessalien sei, ὡς Θέων ἐν ὑπομνήματι Λυκόϕρονος7. Tieferen Einblick in die Arbeitsweise des Stephanos vermittelt der Eintrag im Artikel a 132 Ai[neia (50,12 Meineke), wo er zur sonst nicht belegten Namensvariante Aἰνειάδαι aus Theons Kommentar (zu 1261) referiert: „Aineias aber gelangte nach der Zerstörung von Ilion nach Thrakien und gründete dort eine Stadt namens Aineiadai, wo er seinen Vater begrub“8.

Im ersten Band (A-Γ) der neuen Ethnika-Ausgabe verzeichnen wir 29 zitierte Verse aus der Alexandra. Interessant für unsere Diskussion sind natürlich nicht die problemlosen Fälle, d.h. die Passagen, in welchen sich das Zitat bei Stephanos mit der direkten Überlieferung von Lykophrons Gedicht deckt; vielmehr wollen wir einen Blick auf Abweichungen richten. Es lassen sich vier Gruppen unterscheiden: Erstens, die Überlieferung in den Ethnika (grundsätzlich die Handschriften RQPN) muss korrigiert werden, so etwa im Artikel a 299 ῎Aμϕρυσος (91,11 Meineke), wo Xylander im Zitat von V. 900 aus εὐρὺ ἄμπιον (RQPN) den Eigennamen Εὐρυαμπίων wieder hergestellt hat. Diesem Beispiel nahe steht die zweite Gruppe: Die Überlieferung in den Ethnika ist geteilt, wobei die jüngeren und im Vergleich zu RQ eindeutig gelehrteren Hss. P und N zusammen mit den Lykophron-Hss. das Richtige geben, so z.B. im Artikel α ῎Aβαι (1,6 Meineke) die Paroxytonese des Ortsnamens ῎Aβας in V. 1074 (gegen ῎Aβὰς RQ).

Die dritte Gruppe klassifiziert Abweichungen, welche nicht auf Fehlern der Überlieferung beruhen, sondern durch die Zitiertechnik bzw. die Einpassung in den neuen Kontext bedingt sind und daher in den Ethnika wiederholt begegnen, z.B. Ersatz durch Synonyme, Tempus- und Personenwechsel, Normalisierung (Angleichung von Dialektformen an den Kontext). Nehmen wir V. 591 ἀπ᾿᾿Ωλένου / Δύμης τε Βουραίοισιν ἡγεμὼν στρατοῦ, welchen Stephanos im Artikel β 150 Bοῦηα (182,22 Meineke) zitiert, um das Ethnikon Bουραῖος zu belegen. In der dort überlieferten Fassung Δήμη τε Βουραίοισν ἡγενὼν στόλου hat Holste die durch Itazismus verursachte Verschreibung des achaischen Stadtnamens nach der Überlieferung des Lykophron zu Δύμη korrigiert, hingegen zu Recht den aus dem präpositionalen Ausdruck (ἀπὸ Δύμης) adaptierten Nominativ nicht angetastet. Ebenfalls belassen wird man das modifizierte Zitat von V. 44 ὁ τῆς (RQPN, τὴν sc. ὀπιπεύουσαν ἀγρίαν κύνα codd. Lyc.) θαλάσσης Αὐσονίτιδος μυχούς, welcher im Artikel α 546 Αὔσων (148,7 Meineke) als Beleg für das feminine Ethnikon Αὐσονῖτις herangezogen wird. Im Text der Ethnika bestehen bleibt zudem das synonym gebrauchte στόλου, welches Stephanos bereits in seiner Vorlage vorgefunden haben dürfte. Die Änderung mag mnemotechnische Gründe haben: Lykophron verwendet στόλος dreimal, jeweils im Versausgang (101. 120. 1078). Freilich ist στρατός mit vierzehn Belegen bei ihm viel häufiger, davon zwölfmal am Versende. Die minime Änderung in V. 718 Γλάνις δὲ (τε codd. Lyc.) ῥείθροις δέξεται τέγγων χθόνα, wie sie Stephanos im Artikel γ 81 Γλάνις (208,12 Meineke) zitiert, könnte reines Versehen sein; jedenfalls rundet sie den Vers als Sinneinheit ab.

Personenwechsel ist – soweit metrisch gleichwertig mit dem Primärtext – eine derart häufige Adaptation in der Zitiertechnik, dass nach den Änderungsgründen zu fragen müssig scheint; hier ein Beispiel: Im Zitat von V. 1355 machte Stephanos (oder seine Vorlage) im Artikel α 51 ῎Aγυλλα (23,11 Meineke) aus εἰσεκώμασαν den Singular εἰσεκώμασεν. Auch die Verbform κτείνουσιν in V. 922, wie sie in α 546 Αὔσων (148,2 Meineke) alle Hss. gegen die Überlieferung κτενοῦσι bei Lykophron bieten, hätte nichts Beunruhigendes. Da aber das viermalige Futurum κτενεῖ (500. 712. 795. 1224) bei Lykophron geradezu formelhaft anmutet, lässt das ungewöhnliche Präsens in den Ethnika den Stephanosher-ausgeber doch aufhorchen; hier spricht also alles für Benutzung der Alexandra aus zweiter Hand. Auf Normalisierung von Dialektformen stossen wir im Lexikon häufig, besonders bei Zitaten aus ionisch schreibenden Historikern. Man wird daher in γ 20 Γαλάδραι (196,5) Meineke folgen, der im Zitat von Lyc. 1444 aus dem unverständlichen σιναι der Handschriften die attische Form σῆναι zurückgewonnen hat, während sich Xylander für den Dorismus σᾶναι aus dem Primärtext entschloss9. Schliesslich noch ein Beispiel von formaler Angleichung: In V. 1342 nennt Lykophron „i campi dei Galadrei“, in Umschreibung mit dem Genitiv, Γαλαδραίων πέδον. Stephanos benutzt diese Wendung, um das Ethnikon zu belegen und gleicht dabei den Genitiv dem Nomen als Adjektiv an, καὶ Γαλαδραῖον πέδον.

Für den Lykophron-Herausgeber am interessantesten dürfte die vierte Gruppe von Zitaten sein, in welchen aus den Ethnika für die Textkonstitution der Alexandra etwas abfällt. Es sei gleich vorweggenommen, dass die Ausbeute aus dem ersten Band (A-Γ) nicht überwältigend ist, aber methodisch in Erinnerung ruft, wie wichtig für einen Editor die indirekte Überlieferung seines Textcorpus ist. In V. 98 hat die Namensform mit dem Diphthong Γυθείου, wie er bei Stephanos im einschlägigen Artikel γ 116 Γύθειον (214,6 Meineke) mehrheitlich überliefert ist (QPN, -ι- R), Aufnahme in die Lykophronausgaben gefunden, wohl vor allem deswegen, weil es beim Lexikographen eindeutig heisst, diese Form sei falsch, τινές ϕασιν ὅτι Γύθιον (Holste, πύθιον RQPN) ἐκαλεῖτο, κακῶς. In V. 1239 druckt André Hurst mit den codd. πάλιν πλανήτην und stützt sich dabei auf die Paraphrasen, welche erklären πάλιν πλανώμενον. Angesichts von Lykophrons Vorliebe, ja gerade Neuerungssucht für πάλιν- Komposita (z.B. παλίμπλωτος, παλιμπόρευτος) empfiehlt sich wohl, an unserer Stelle παλιμπλανήτην zu korrigieren, wie es die Ethnika a 223 ᾿Αλμωπία (76,17 Meineke) bewahrt haben und es auch Paduanos Übersetzung „errabondo“ nahelegt. Umgekehrt ist unser Lykophron-Herausgeber, wie bereits vor ihm Mascialino in der Teubneriana, in V. 850 nicht Scheers Empfehlung gefolgt und bleibt mit εἵνεκ᾿ zu Recht, gegen οὕνεκ᾿ im Stephanos-Artikel α 113 Aἶγυς (45,3 Meineke), bei der einhelligen Überlieferung. Ausschlaggebend für diese einmalige Verwendung des gesuchteren εἵνεκα in der Alexandra dürfte der Umstand gewesen sein, dass die Konjunktion nach elidiertem -ο in Synaloephe steht, während dies bei dem sonst von Lykophron bevorzugten οὕνεκεν (864. 935. 1187) nicht der Fall ist.

Seinen eigenen Weg ist der Jubilar mit guten Gründen schliesslich auch bei der umstrittenen Variante Γαλάδρης in V. 1444 gegangen. Die überlieferte ionische Dialektform schafft Klarheit im Textverständnis „il lupo, il comandante di Galadra“ (Γαλάδρης τὸν στρατηλάτην λύκον). Zudem bringt sie zum Bewusstsein, wie wenig der Hinweis der Lykophron-Editoren auf das Zitat bei Stephanos hier taugt. Aus dem Zusammenhang 1443 / 44 ἀναγκάσῃ πτήξαντας ᾿Αργείων πρόμους / σᾶναι Γαλάδρης τὸν στρατηλάτην λύκον herausgelöst, zitiert der Lexikograph den zweiten Vers, um im Artikel γ 20 Γαλάδραι (196,6 Meineke) die Pluralform des makedonischen Stadtnamens zu belegen; auf diesen Schluss jedenfalls kommt der unbefangene Leser der Ethnika, welcher Meinekes Konjektur Γαλάδρας aus überliefertem γαλάδρος (RQPN) akzeptiert und zudem mit dem Stil der Epitome vertraut ist. Der konstruierte Akkusativ des angeblich pluralischen Städtenamens ist hier zum Subjekt von σῆναι (dazu s. oben) mutiert: Γαλάδραι •πόλις Μακεδονίας ἐν Πιερίᾳ, Λυκόϕρων „σῆναι Γαλάδρας τὸν στρατηλάτην λύκον“ (Galadrai, makedonische Stadt in <der Landschaft> Pierien. Lykophron <sagt>, „es umschmeichle Galadrai den Heerführer, den Wolf“). Hursts überlegter Entscheid gegen eine Lesart Γαλάδρας, wie sie Scheer, Holzinger, Mascialino mit Hinweis auf Stephanos empfehlen, hat auch der Editorin der Ethnika den Blick für die Manipulationen des Epitomators geschärft10.

Bibliographie

Scheer, E. (1881-1908, 19582). – Lycophronis Alexandra, vols. I-II, Berlin.

Holzinger, C. von (1895). – Lycophron’s Alexandra, Leipzig.

Mascialino, L. (1964). – Lycophronis Alexandra, Leipzig.

Fusillo, M. / Hurst, A. / Paduano, G. (1991). – Licofrone, Alessandra. Biblioteca Letteraria 10, Milano.

Meineke, A. (1849, 19923). – Stephani Byzantii Ethnicorum quae supersunt, Chicago.

Leone, P. A. M. (2002). – Scholia vetera et paraphrases in Lycophronis Alexandram, Galatina.

Ziegler, K. (1927) – „Lykophron“, RE XIII 2, 2316-2381.

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1 Fusillo / Hurst / Paduano 1991, 41.

2 In einem vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekt bereite ich eine kritische Neuausgabe der Ethnika des Stephanos von Byzanz vor (Einleitung, Text, dtsch. Übersetzung mit Anmerkungen); die Edition des ersten Bandes (A-Γ) ist abgeschlossen.

3 Einen guten Eindruck des Textverlustes, der vor allem die Belege aus Dichtern und Historikern betrifft, vermittelt der Artikel Δωδώνη (246,6-250,10 Meineke), der sowohl in ursprünglicher oder zumindest vollerer Fassung (Paris, Bibl. Nat. Cod. Coisl. Graec. 228) als auch in epitomierter Form überliefert ist.

4 Scheer 19582, p. XVIII-XXXII; s. ferner Ziegler 1927, 2351-2353.

5 Zur Überlieferung von Theons Kommentar in den Ethnika des Stephanos s. jetzt Leone 2002, p. XVII-XVIII.

6 St.Byz.a404 (115,5 Meineke). Im Licht von Hdn.1,183,17 und Suid.α3790 empfiehlt es sich, die Überlieferung ’Aργύρινοι (RQPN, gefolgt von Hurst s. oben S. 411) mit Meineke zu ’Αργυρῖνοι zu verbessern; s. auch Sch.Lyc.1017.

7 St.Byz.399,7 Meineke.

8 Θέων δ᾿ Αἰνειάδας ταύτην καλεῖ, ὑπομνηματίζων τὸν Λυκόϕρονα ,,Αἰνείας δὲ μετὰ τὴν ᾿Ιλίου πόρθησιν εἰς Θρᾴκην παρεγένετο καὶ ἔκτισε πὸλιν Αἰνελάδας, ὅπου τὸν πατέρα ἔθαψε“. Die Überlieferung der Namensvariante Αἰνελάδας ist an beiden Stellen einhellig, weshalb Meineke wohl zuzustimmen ist, dass sich Isaak Tzetzes mit der Form Αἰνειάδα in seinem Eintrag zu 1261 irrt.

9 In der Korruption spiegelt sich wiederum der Itazismus; s. dazu oben S. 413.

10 Aus unserer Stephanos-Equipe danke ich Arlette Neumann und Nadine Sauterel für Kontrollarbeiten.